Seelenkälte: Ein Fall für Suna Lürssen (German Edition)
sie nur ein bisschen besser behandelt hätte während ihrer Ehe, wäre vielleicht alles ganz anders gelaufen. Wenn er erst endlich wieder draußen war, schwor er sich, würde er einiges wieder in Ordnung bringen, was in seinem Leben schiefgelaufen war.
Nicht wenn, falls , schoss es ihm durch den Kopf. Falls die Entführer ihn jemals wieder freiließen. Falls er das hier überlebte.
Er presste die Hand auf den Mund, um nicht doch noch laut aufzuschluchzen. Er konnte nicht mehr. Er hatte einfach keine Kraft mehr.
Er hatte immer gedacht, die Kälte wäre das Schlimmste an seiner Gefangenschaft, oder das verdammte Neonlicht. Doch das stimmte nicht. Das Schlimmste an allem war das Gefühl der Hilflosigkeit, das er empfand.
Vor seiner Gefangennahme war stets er derjenige gewesen, der das Sagen gehabt hatte, egal ob es um das Geschäft oder um private Angelegenheiten ging. Er hatte niemals nach anderer Leute Pfeife getanzt. Dass er jetzt plötzlich sein Leben nicht mehr selbst in der Hand hatte, war völlig neu für ihn, und es erschreckte ihn mehr als alles, was er jemals erlebt hatte. Er fühlte sich allein gelassen, machtlos.
Ausgeliefert .
Das beschrieb es am besten. Er war seinen Entführern ausgeliefert. Nur von ihrer Willkür hing es ab, ob er überlebte oder starb.
Hätte er eine Waffe gehabt oder irgendeine andere Möglichkeit, seinem Leben selbst ein Ende zu setzen, wäre er vielleicht schwach geworden. Immerhin hätte er noch selbst bestimmen können, wann und vor allem wie es mit ihm zu Ende ging. Aber selbst diese Wahl hatte er nicht. Ihm blieb nichts anderes übrig, als zu warten – und langsam zu verrecken.
Mit der Zunge fuhr er über seine rissigen, aufgesprungenen Lippen. Er hatte Durst, das Fieber forderte seinen Tribut. Doch seine Wasserration für den Tag hatte er schon vor Stunden aufgebraucht.
Trotzdem griff er noch einmal zu der Mineralwasserflasche, die neben ihm auf dem Boden stand, drehte mühsam den Verschluss auf und hielt sie an den Mund. Gierig leckte er die letzten Tropfen auf, die aus der Flasche rannen. Dann wiederholte er alles mit der zweiten Flasche.
Anschließend schob er sich zur Metallklappe vor, kniete sich hin und legte beide Flaschen in die Schiebevorrichtung. Er wusste, dass er kein frisches Wasser bekommen würde, wenn er die Flaschen nicht zurückgab. Er hatte es bereits in den ersten Tagen, die er diesem Verlies verbracht hatte, ausprobiert. Niemand, der es noch nicht erlebt hatte, konnte sich vorstellen, wie es sich anfühlte, wirklich Durst zu haben. Es war, als ob man innerlich vertrocknete.
Im blanken Metall vor sich konnte er ganz gut sein Spiegelbild erkennen. Er sah elend aus, richtig schlecht. Sein Bartwuchs war schon immer recht üppig gewesen. Häufig hatte er sich nicht nur morgens rasiert, sondern auch abends, wenn er einen wichtigen Termin hatte, eine Besprechung mit zahlungskräftigen Kunden oder ein Geschäftsessen – oder wenn er mal wieder vorhatte, eine Frau aus einer Bar abzuschleppen.
Jetzt verdeckte ein Vollbart einen großen Teil seines hager gewordenen Gesichts. Die grauen Barthaare ließen ihn älter wirken, als er war, und sein elendes Aussehen verstärkte diesen Eindruck noch. Am hervorstechendsten jedoch waren seine Augen. Eingefallen und fiebrig glänzend starrten sie ihm entgegen.
In diesem Moment war er ganz froh darüber, dass die Metallplatte – anders als ein richtiger Spiegel – die Wahrheit ein wenig schönte. Der Anblick seines Spiegelbilds war auch so schon schwer genug zu ertragen.
Schwerfällig ließ er sich wieder auf den Boden fallen, lehnte sich neben der Schiebevorrichtung gegen die Wand und wartete. Wenn sein Zeitgefühl ihn nicht vollkommen im Stich ließ, musste bald Nachschub kommen. Das Essen war ihm ziemlich egal. Er hatte keinerlei Appetit. In den letzten zwei Tagen hatte er sich regelrecht zwingen müssen, ein paar Bissen zu sich zu nehmen, um nicht noch schwächer zu werden. Nein, ihm ging es nur um das Wasser. Wieder leckte er sich über die Lippen, obwohl ihm bewusst war, dass er sie damit nur noch mehr austrocknete.
Plötzlich hielt er inne und lauschte angestrengt. War da eben ein Geräusch gewesen? Kamen seine Entführer zurück?
Er wagte es kaum, zu atmen. Und tatsächlich – vor der Metallklappe außerhalb seines Verlieses ertönte ein Scharren und leises Klappern. Das vertraute Geräusch der Schiebevorrichtung, die auf die andere Seite gezogen wurde, beruhigte ihn etwas. Gleich würde er endlich das
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