Seelenkälte: Ein Fall für Suna Lürssen (German Edition)
ersehnte Wasser bekommen.
Wieder wurde die Schiebevorrichtung in Gang gesetzt. Tenstaage kniete sich auf den Boden und nahm sofort eine der Wasserflaschen heraus. Aber sie war leer.
Verzweifelt griff er nach der zweiten Flasche, aber noch bevor er sie anhob, wusste er, dass auch sie nicht ausgetauscht worden war. Er hatte den Teller gesehen, den sie ihm hingeschoben hatten. Den Teller, auf dem sonst immer das Essen für den Tag gelegen hatte. Er war ebenfalls leer. Nur ein Zettel lag darauf, ein Computerausdruck. Auf ihm stand nur ein einziges Wort, ausgedruckt in Großbuchstaben aus schwarzer Tinte:
ZAHLTAG!
Tenstaage blickte auf. Er spürte die Panik, die in ihm aufstieg.
»Hey!«, brüllte er mit heiserer Stimme. »Was soll das? Gebt mir was zu trinken!«
Doch plötzlich stutzte er. Etwas anderes machte ihm noch viel mehr Angst. Das leise Rauschen, das ihn seit dem ersten Tag seiner Gefangenschaft begleitet hatte, war verstummt.
Panisch blickte er zu dem schmalen Gitter unterhalb der Decke. Seine schlimmste Befürchtung wurde bestätigt. Die Streifen aus glänzender Metallfolie, die sonst immer im Luftstrom getanzt hatten, hingen jetzt schlaff herunter.
Ein hysterisches Lachen stieg in seiner Kehle auf, als ihm klar wurde, was das bedeutete. Die Entführer hatten ihm die Luftzufuhr abgedreht.
*
Gegen acht Uhr morgens betrat Suna ihr kleines Detektivbüro in der Lübecker Altstadt. Sie hatte noch nicht einmal ihre Jacke ausgezogen, als schon das Telefon klingelte.
Mit einem strafenden Blick versuchte sie es zum Schweigen zu bringen, aber es klingelte einfach weiter. Also nahm sie das Gespräch an.
»Hallo Frau Lürssen, hier ist Linda Vossen«, meldete sich eine bekannte Stimme. »Es tut mir leid, dass ich sie so früh störe, aber ich dachte mir ...« Sie brach ab.
»Kein Problem, ich bin schon länger wach«, versicherte Suna ihr schnell. Sie hatte die niedergeschlagene Stimmung, in der sich ihre Klientin befand, sofort bemerkt. »Ich bin zwar nicht gerade die geborene Frühaufsteherin, aber ein Freund hat mich heute Morgen schon recht unsanft aus dem Schlaf geholt. Haben Sie Neuigkeiten für mich?«
»Das nicht direkt.« Linda atmete einmal tief durch. »Ich bin gerade im Haus meiner Mutter und räume ihre Sachen zusammen. Gestern habe ich von der Staatsanwaltschaft die Schlüssel bekommen. Es wurde alles freigegeben.«
»Das heißt, es ist inzwischen erwiesen, dass Ihre Mutter sich wirklich das Leben genommen hat«, folgerte Suna leise.
»Zumindest geht die Staatsanwaltschaft davon aus. Sie haben keine Fingerabdrücke von anderen Personen in ihrem Haus gefunden, genauso wie auf der Wodkaflasche und dem Glas, aus dem sie vorher getrunken hatte. Im Glas waren auch Rückstände eines Schlafmittels, und die Packung dazu lag neben der Spüle. So wie es aussieht, hat meine Mutter das Mittel in den Wodka gemischt, das Ganze getrunken und ist dann in die Garage gegangen, um sich mit den Autoabgasen im Schlaf zu vergiften.«
»Aber es gab keinen Abschiedsbrief?«, hakte Suna nach.
»Nein. Allerdings wundert mich das auch nicht wirklich. Saskia war tot, zu mir hatte sie keinen Kontakt mehr, und sonst gab es eigentlich auch niemanden, der ihr nahestand. Wem also hätte sie schreiben sollen?« Sie machte eine kurze Pause, bevor sie weitersprach. »Deswegen rufe ich aber gar nicht unbedingt an. Es ist nur so, dass ich einen ganzen Stapel Unterlagen gefunden habe, alles, was meine Mutter im Lauf der Zeit so angesammelt hat. Ich muss ehrlich sagen, dass ich momentan einfach nicht die Nerven habe, sämtliche Papiere akribisch durchzugehen. Ich werde mich nur um das Nötigste kümmern. Aber ich wollte Sie fragen, ob Sie vielleicht Interesse haben, sich die Sachen einmal anzusehen.«
Suna überlegte kurz. Ihr ging nicht aus dem Kopf, was Tamara in ihrem Telefonat erzählt hatte. Dass es irgendein Ereignis in Saskias Kindheit oder Jugend gegeben hatte, das mit ihren anhaltenden seelischen Tiefs zu tun hatte. Vielleicht gab es in den Unterlagen ihrer Mutter einen Hinweis darauf, was das gewesen sein könnte. Zumindest konnte sie damit die Zeit überbrücken, bis es Neuigkeiten im Fall Baudelhoff gab.
»Das würde ich wirklich gern«, erwiderte sie daher. »Im Moment stecke ich ein bisschen in einer Sackgasse mit meinen Ermittlungen. Möglicherweise finde ich in den Unterlagen einen neuen Ansatzpunkt. Sind Sie jetzt noch im Haus Ihrer Mutter?«
»Das bin ich.« Linda stöhnte auf und lachte dann leise. »Und
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