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Seelenkalt - Minajew, S: Seelenkalt - Duchless

Seelenkalt - Minajew, S: Seelenkalt - Duchless

Titel: Seelenkalt - Minajew, S: Seelenkalt - Duchless Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Minajew
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höchstens Kalifen für eine Stunde. Vielleicht auch für ein paar mehr, je nachdem, wie lange die Wirkung
anhält. Die Mädchen wissen das natürlich auch, weshalb sie sich nach Kräften bemühen, dem Bild der Scheherezade für eine Nacht zu entsprechen. Sie lachen laut über unsere Witze, lassen sich freizügig von Vadim befummeln, schieben ihre Hände unter sein T-Shirt und knutschen mit ihm herum. Kurz, sie tun ihr Bestes, nicht hinter durchschnittlichen Pornodarstellerinnen zurückzustehen.
    Als wir am Newski Palace ankommen, gibt es eine kurze Verzögerung. Auf dem Bürgersteig vor dem Hotel steht ein kleines Werbeplakat mit der Fotografie eines Brautpaares. Er im Smoking, sie in einem ziemlich abgefahrenen weißen Kleid. Vadim fasst eines der beiden Mädchen (Tatjana, wie wir inzwischen wissen) unterm Arm und baut sich mit ihr vor dem Schild auf.
    »He, sehen wir nicht aus wie ein Brautpaar? Na los, sagt schon! Meiner Meinung nach sind wir perfekt! ›Till Death Do Us Apart‹, so heißt das doch, oder?«, deklamiert er salbungsvoll.
    Richtiger müsste es wohl »Till Morning Do Us Apart« heißen. Aber wozu dieser Zynismus, wenn man eine romantische Nacht vor sich hat?
    Im Hotel lädt Vadim mit großer Geste alle zu sich ein. Wie sich herausstellt, bewohnt er ein Zweizimmerappartement, dessen Ausstattung mehr als deutlich zu erkennen gibt, wie phänomenal die Geschäfte der Tabakindustrie in Russland florieren. Wenn der Marketingdirektor sich so eine Suite leisten kann, was machen dann erst die Chefs? Mieten die die ganze Stadt?
    Vadim besorgt Champagner und verteilt ihn in Gläser, und ich streue das restliche Pulver auf das Zeitungstischchen
und lege einen zusammengerollten Geldschein und meine Kreditkarte daneben. Die Mädchen schnupfen affektiert, und Tatjana flüstert:
    »Klasse. Das ist Moskauer Stoff, oder?«
    »Hmhm.«
    »Man merkt sofort, dass das nicht unser Aspirin ist.«
    »Ich meine, vom Moskauer Bahnhof«, lache ich. »Aber Mädels, was spielt das für eine Rolle, ob das Moskauer oder Petersburger Stoff ist? Hauptsache, wir haben Spaß, oder?«
    Alle lachen einmütig, wir stoßen an, und es nähert sich der Moment, in dem die Pause zwischen dem Präludium und dem bevorstehenden Sündenfall überbrückt werden muss. Allen ist das weitere Szenario vollkommen klar, aber wir können uns ja nicht einfach die Klamotten runterreißen und losvögeln. Wir sind schließlich intelligente Menschen, auf Tournee in der Hauptstadt der Kultur. Und deshalb werden wir die nächsten zwanzig Minuten brav mit irgendwelchen Banalitäten überbrücken.
    »Vadim, du hast so interessante Mokassins an«, bemerkt Lena kokett.
    »Oh ja, für die hab ich ein ganzes Jahr Frondienste auf den Baustellen des Kapitalismus geleistet«, gibt Vadim geziert zurück.
    »Du meinst wohl, Hunderte von kleinen Fronarbeitern haben sich ein Jahr lang in Ausbeuterbetrieben abgerackert, damit du hier säckeweise Komplimente abgreifen kannst«, bemerke ich süffisant.
    »Was für Betriebe?«, fragt Tatjana.
    Da sprudelt es völlig unvermittelt aus mir heraus. Ich erkläre ihr, wie die Preise von Luxuswaren auf den Weltmärkten
gemacht werden, erzähle von den unmenschlichen Arbeitsbedingungen in den Fabriken Südostasiens, in denen all dieser Wohlstandsmist hergestellt wird – so bildhaft, als wäre ich selber dort gewesen. Ich kläre sie darüber auf, wie überall in der Welt mit unserer stillschweigenden Billigung ein neues Sklavensystem entsteht. Ich rede über die Heerscharen stumpfsinniger Idioten, deren größtes Lebensziel es ist, möglichst viele Mitgliedskarten möglichst angesagter Clubs und möglichst viele Kundenkarten von möglichst teuren Boutiquen aus beiden Hauptstädten unseres Landes zu besitzen. Mit Emphase rufe ich alle Anwesenden auf, in sich zu gehen und darüber nachzudenken, dass wir unseren Kindern eine klare Linie in die Zukunft weisen müssen, wobei Vadim die nächste Line gerade von der Tischplatte putzt. Und während ich mich bemühe, die nicht besonders lebhafte Aufmerksamkeit meiner Zuhörer auf die beunruhigende Tatsache zu lenken, dass unser heutiges demokratisches System sich kaum von dem des Kommunismus unterscheidet, lenkt Vadim Tatjana schon ins Nebenzimmer. Ich befinde mich in einer Art Trancezustand, mein Denken bewegt sich schneller als meine Sprechwerkzeuge. Ich möchte über die Liebe reden, über die einfachen und doch so wichtigen menschlichen Gefühle, über Geopolitik, gnadenlose Konkurrenzkämpfe

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