Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Seelenkalt - Minajew, S: Seelenkalt - Duchless

Seelenkalt - Minajew, S: Seelenkalt - Duchless

Titel: Seelenkalt - Minajew, S: Seelenkalt - Duchless Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Minajew
Vom Netzwerk:
auf dem Weltmarkt …
    Ich lege alle rhetorische Raffinesse in meinen Monolog, alle Energie, zu der ich fähig bin, und schließe endlich mit den Worten:
    »Versteht ihr, wohin wir alle steuern?«
    Und da, nach dieser so wunderbaren ergreifenden Rede, nach diesem Erguss voller genialer Einfälle und hinreißender
Sprachfiguren, in der ich alle großen Menschheitsfragen behandelt und gelöst habe, in diesem beschissenen genialen Moment hebt Lena, dieses miese behämmerte Stück Vieh, ihre leeren Kuhaugen zu mir auf und fragt ganz leise und unschuldig:
    »Is eigentlich noch Kokain da?«
    Ohne ein weiteres Wort reiße ich mir das T-Shirt vom Leib und werfe die Tür zum Nachbarzimmer ins Schloss.
     
    Um sechs Uhr morgens gehe ich ins Bad. Ich drehe den kalten Wasserhahn auf und halte meinen Kopf minutenlang unter den kalten Strahl. Dann trockne ich mir das Gesicht mit einem der flauschigen Handtücher ab, die man immer noch in russischen Hotels findet. Als ich wieder ins Zimmer komme, sehe ich meine Jeans auf dem Fußboden, fische mein Telefon aus der Tasche und finde eine ungelesene SMS. Ich zünde mir eine Zigarette an und lese: »Mein kleiner Junge«, schreibt Jula. »Ich möchte jetzt deinen verrückten Kopf streicheln. Und meine Nase in dein Haar drücken. Schlaf gut. Bis morgen.«
    Trotz meiner trüben Birne schäme ich mich in Grund und Boden. Dafür, dass ich ihr so scheußlich die Ohren vollgejammert habe, dafür, wie ich diese Nacht verbracht habe, und am meisten dafür, dass ich für einen kleinen Augenblick zugelassen habe, dass sie von all diesen Heucheleien und Lügen berührt wurde. Ich schicke ihr eine rührselige SMS, vergleiche sie mit einem Engel und füge noch einhundertsechzig Zeichen meiner Gefühle hinzu. Ich glaube, die Waagschalen meines Lebens kommen endlich in Bewegung, und die Schale, in der das Gute liegt, oder sagen wir, die
Bruchstücke des Guten, senkt sich ganz langsam und überwiegt all das Scheußliche in mir, das bis zur heutigen Nacht unangefochten geherrscht hat. Oder ist das eine Illusion?
     
    Am selben Tag, wenige Stunden später, sitze ich in der Bar des Newski Palace, trinke Champagner und spiele mit meinem Handy herum. Ich lese die SMS, die Jula und ich ausgetauscht haben. Im Radio singt Dido Eminems Song »Stan«:
     
    My tea’s gone cold, I’m wondering why I got out of bed at all. The morning rain clouds up my window and I can’t see at all. And even if I could, it’d all be grey, but your picture on my wall. It reminds me that it’s not so bad. It’s not so bad.
     
    Vielleicht, überlege ich, lag sie ja heute morgen in den Armen eines anderen Mannes, als meine SMS bei ihr einging. Sie küsste ihn zärtlich aufs Kinn, er öffnete verschlafen die Augen und strich ihr über das Haar, und dann lachten sie, räkelten sich wohlig und stimmten sich auf den neuen Tag ein.
    Und gestern, als sie mit mir telefoniert hat, saß er bestimmt in Partylaune im Nachbarzimmer oder lehnte am Türpfosten und sah sie an, und sie machte ihm hastig Zeichen, so in der Art »Ich komme gleich, eine Minute«, und dann versuchte sie, am Telefon diesen verdammten Psychopathen zu beruhigen – mich.
    Ich habe einen Kloß im Hals und Tränen in den Augen, obwohl ich weiß, dass diese Eifersucht destruktiv ist, zumal in unserem Fall völlig unbegründet. Aber die Paranoia ist mir längst in die Adern gekrochen und lässt mein Blut
schäumen wie Champagnerbläschen. Am liebsten würde ich weglaufen und mich vor allem und allen verstecken. Ich fühle mich tief gekränkt und habe so entsetzliches Mitleid mit mir selber, dass ich heulen könnte.
    Als ich das vierte Glas Champagner intus habe – es ist noch nicht einmal elf Uhr morgens -, entdecke ich eine weitere grundlegende Formel unseres Daseins. Sie lautet: Ich betrüge alle, und ich werde von allen betrogen. Keiner sagt die Wahrheit. Niemandem kann man glauben. Wir sind alle Geiseln unserer eigenen Lügen. Wir leben nach dem Motto »Lügen bringt Heil«, und unser Heil liegt tatsächlich in der Lüge. Aus Angst, jemanden zu verletzen, indem wir die Wahrheit sagen, verletzen wir uns selber mit den Flaschenscherben unserer Lügen. Und alles aus reiner Bequemlichkeit.
    Wir quatschen am Telefon mit unseren Ehefrauen, während unsere Freundinnen uns einen blasen. Wenn sie damit fertig sind, verschwinden sie im Bad, um ihren Freunden, die sich inzwischen vor Sehnsucht verzehren, heimlich eine SMS zu schicken. Und kaum haben diese Freunde die heiß

Weitere Kostenlose Bücher