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Seelenkalt - Minajew, S: Seelenkalt - Duchless

Seelenkalt - Minajew, S: Seelenkalt - Duchless

Titel: Seelenkalt - Minajew, S: Seelenkalt - Duchless Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Minajew
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die wichtigsten dieser Götzentempel des globalen Handels gezeigt hat, bringt sie mich zurück zum Newski Palace, und endlich kann ich das feuchte Laken des heutigen Tages zusammenrollen.

Die Vergeistigten
    Wir sitzen in Mischas Junggesellenküche. Die Vorhänge sind geschlossen, ein grüner Lampenschirm gießt eine matte Lichtsäule in die Mitte der Küche, auf dem Herd summt leise der Teekessel. Im Großen und Ganzen ist es durchaus komfortabel und gemütlich. Mischa schneidet eine Limone in Scheiben, verteilt sie ungeschickt auf einem Teller und flucht dabei leise vor sich hin. Dann verschwindet er ins angrenzende Zimmer. Als er zurückkommt, hält er ein kleines Päckchen aus Zeitungspapier in der Hand. Er setzt sich mir gegenüber an den Tisch und faltet das Papier ganz langsam und vorsichtig auseinander.
    »Mischa«, sage ich. »Du siehst aus wie ein Minensucher, der Schiss hat, einen Fehler zu machen.«
    »Hmhm, und du siehst aus wie ein Geier, der auf Beute lauert«, antwortet er schnaufend und fügt dann hinzu: »Keine Angst, ich mache keinen Fehler.«
    Er klopft eine Belomorkanal aus der Packung, die vor ihm auf dem Tisch liegt, lässt den Tabak aus der Hülse in seinen Handteller rieseln und mischt ihn dort sorgfältig mit dem Gras. Dann baut er mit ruhigen, sehr präzisen Handbewegungen den ersten Joint.
    Das gemeinsame Kiffen mit Mischa hat sich für mich zu einer guten Petersburger Tradition entwickelt. Wir haben
uns vor drei Jahren in den endlosen Weiten des russischen Internets kennengelernt und treffen uns seitdem ungefähr alle halben Jahre. Unser Kontakt läuft praktisch nur per E-Mail, wir telefonieren so gut wie nie miteinander. Mischa arbeitet in einer Firma, die mit Telekommunikation zu tun hat, er prüft Telefonleitungen, Server und sonstigen Metallkram, von dem ich nichts verstehe. Mischa ist wahrscheinlich der einzige meiner Bekannten, mit dem ich über etwas anderes als über Geld und Geschäft, Weiber und Partys reden kann. Ich schätze unsere seltenen Zusammenkünfte sehr, die Gespräche über die Probleme der Menschheit, über die Weltgeschichte oder die aktuelle Situation unseres Landes, überhaupt über alles das, worüber man nur mit jemandem reden kann, der nicht bereit ist, seinen letzten Blutstropfen für die Verteidigung seines materiellen Wohlstandes zu opfern. Nach solchen Abenden laufe ich noch wochenlang mit ganz klarem Kopf herum, als ob der Oberste Systemadministrator die Hardware in meiner Birne von sämtlichem Datenmüll gesäubert hätte, der sich in der Zwischenzeit angesammelt hat. Diese Metamorphose ereignet sich jedes Mal nach den Zusammenkünften mit Mischa. Wenn ich mit anderen Leuten Gras rauche, ist mein Hirn am anderen Morgen vernebelt und stumpf, sonst nichts. Vielleicht braucht es ja die Gegenwart eines seelenverwandten Menschen, damit das Gras geistige Tunnel öffnen kann. Vielleicht liegt es auch an der speziellen Petersburger Atmosphäre. Wie dem auch sei: Wenn ich bekifft bin, quatsche ich am liebsten mit Mischa.
    »Also erzähl, Mischa, wie läuft das Leben in diesen Moskitosümpfen?«

    »Ausgezeichnet. Wie das Wasser in der Newa. Bestimmt nicht schlechter als in deinem großen Dorf.«
    Mischa setzt den Joint in Brand, und die Glut seiner Belomorkanal spiegelt sich lustig in den Gläsern seiner Brille.
    »Sag mal, Mischa, warum nennst du Moskau eigentlich immer Dorf? Magst du unsere wunderschöne Hauptstadt etwa nicht?«
    »Nein, ich mag sie nicht«, antwortet er und reicht mir den Joint rüber. »Und ich nenne sie so, weil sie’s ist. Neunzig Prozent der Einwohner Moskaus kommen direkt aus den Kolchosen und haben sich mit den paar verbliebenen Alt-Moskauer Spießern vermischt. Daraus wurde dann ein Mega-Dorf. Statt Kuhherden gibt es Herden von Jeeps auf den Straßen, hinterm Steuer hocken die Ochsen, und die Restaurants sind voller Ziegen und Böcke. Bloß, dass ihr nicht von Gras träumt, sondern von Geld und Karriere. Ich wundere mich nur, dass ihr die Kirchen noch nicht in Clubs umfunktioniert habt, die bieten doch eine wunderbare Akustik.«
    »Wieso bist du auf einmal so gereizt? Ist irgendwas nicht in Ordnung? Apropos Gras, das Zeug hier ist exzellent!«
    »Das stammt ja auch aus Opas Garten. Nein, bei mir ist alles klar, ich bin einfach müde. Ich hatte den ganzen Tag in so einer komischen Firma zu tun, wo sie nicht einmal wissen, wie man ein Telefon einstöpselt. Grauenhaft!«
    »Tja, du bist wirklich nicht zu beneiden, rackerst wie ein

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