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Seelenkalt - Minajew, S: Seelenkalt - Duchless

Seelenkalt - Minajew, S: Seelenkalt - Duchless

Titel: Seelenkalt - Minajew, S: Seelenkalt - Duchless Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Minajew
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Brillenrand hinweg mit seinem Blick.
    »Uff, Mischa, das ist mir zu kompliziert, darauf hab ich jetzt echt keine Lust. Reden wir lieber über einfache Sachen, ja? Ich blicke bei deiner Hirnwichserei sowieso nicht durch. Sonst sitzen wir wieder bis morgen früh hier rum und brüllen uns die Hälse wund.«
    »Du warst es doch, der mich einen bornierten europäischen Spießer genannt hat.«
    »Ich? In Ordnung, vergessen wir’s. Lass uns noch eine Tüte basteln und ein bisschen über Politik quatschen, ja? Scheiß auf die Vergeistigung.«
    »Einverstanden.«
    Während ich den dritten Joint bastele, schneidet Mischa Schwarzbrot und Wurst. Mir fällt auf, dass er jedes Mal, wenn er bekifft ist, extrem häuslich wird. Quasi der ideale Ehemann und Schwiegersohn. Ich rauche die Papirossa an und angele dabei eine Zeitung vom Fensterbrett, weil eine
Schlagzeile meine Aufmerksamkeit erregt hat: »In was für einem Land werden unsere Kinder leben?« Darunter ein Foto – Chodorkowskis Gesicht hinter Gitterstäben.
    »Hör dir mal an, was hier steht«, sage ich. »›Unser Land gleicht einer ehemaligen Kommunalka. Die alten Mieter haben sie verlassen, ein neuer Besitzer ist eingezogen und versucht jetzt, sie neu einzurichten. Jedes Zimmer ist ein anderer Schweinestall. Während die neuen Bewohner in der Küche dabei sind, den Herd zu wechseln, platzen im Badezimmer die Rohre.‹ Wie gefällt dir diese Passage?«
    »Völliger Blödsinn. Ich persönlich finde, unser Land gleicht eher einer Fünfzimmerwohnung im Zentrum von Moskau, die ein arbeitsscheuer und alkoholabhängiger Grünschnabel unerwartet von einer entfernten Tante geerbt hat. Die Wohnung ist riesig und bis unter die Decke vollgestopft mit kostbaren Antiquitäten, und dieser Typ fängt natürlich sofort an, alles Stück für Stück zu verscherbeln, um die Kohle ohne Umwege für Saufen und Weiber zu verplempern.«
    »Und was kommt dann?«
    »Was soll dann kommen?«
    »Na, was ist, wenn er den ganzen Krempel endgültig verhökert hat?«
    »Na, was schon? Wenn er das Inventar versilbert hat, kommt die Wohnung an die Reihe, ist doch klar.« Mischa haut das Messer in das Holzbrett, auf dem er gerade die Wurst geschnitten hat. »Oder es kommt noch schlimmer. Vielleicht stehen eines Tages ein paar Typen auf der Matte und stellen Ansprüche auf Tantchens Erbe. Auf einmal zeigt sich, dass unser Grünschnabel gar nicht das Recht hatte, in
der Wohnung zu wohnen! Und bohrt man dann weiter, stellt sich heraus, dass es nie eine Erbtante gegeben hat!«
    »Eine ziemlich finstere Theorie, Mischa. Da stehen einem ja die Haare zu Berge.«
    »Ach was, so schlimm ist das nicht. Die Wirklichkeit ist viel schlimmer. Ich meine die Tatsache, dass wir gerade an einem Mischmodell für unsere neue Wohnung herumbasteln: ein Mix aus amerikanischer Kasernendemokratie und dem traditionellen europäischen Hang zum Linksradikalismus, multipliziert mit russischer Schlamperei. Ich sehe unseren nächsten Präsidenten schon vor mir: ein Mischwesen aus Limonow und Bush mit dem Gesicht unseres rauschebärtigen bramarbasierenden Revoluzzer-Räuberhäuptlings Batka Machno. So ein Typ, der in der Uniformjacke eines SS-Standartenführers herumläuft, komplett mit Rangabzeichen, aber in Weiberrock und Spitzenstrümpfen, und den Kapitalisten mit Raketen droht. Wenn man sieht, wie eifrig und leichtfertig wir die hundertjährigen Eichen unserer Geschichte roden und hoffen, dass auf dem umgewühlten Acker lauter liberale Kürbisse sprießen, dann wird es wohl auch so eintreten.«
    »Nein, Mischa, da bin ich anderer Meinung. Bei uns wächst gar nichts, auch keine liberalen Kürbisse. Die Sache ist viel einfacher, man hat uns nämlich schlicht und ergreifend an der Nase herumgeführt.«
    »Wie das?«
    »Einfach so. Ich habe einen Bekannten, Edik.« Mischa ruckelt sich in seinem Sessel bequemer zurecht. »Dieser Edik hat eine Menge Kohle damit gemacht, dass er allen möglichen Deppen gefälschte Markenuhren angedreht hat. Erstklassige
Kopien, sogar das Uhrwerk war gute Arbeit. Aber dann lernte Edik eines Tages einen Bullen kennen, einen Oberst bei der Miliz. Dieser Oberst war kurze Zeit vorher noch als Major durch die Gegend gelaufen und dachte, er müsste sich mit seinen neuen Schulterklappen auch ein neues Image zulegen. Und da hat ihm unser Edik eben ein neues Image besorgt.« Mischa angelt sich ein Feuerzeug, und ich fahre fort: »Mit anderen Worten, er hat ihm zwei von seinen Uhren verkauft, eine Patek Philipp und

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