Seelenkalt - Minajew, S: Seelenkalt - Duchless
zusammen, reden übers Wetter und gehen wieder nach Hause.«
»Na gut, trinken wir erst mal ein Tässchen Kaffee. Vielleicht haben wir ja auch noch Zeit, einen Happen zu essen?«
»Eher nicht, Wolodja, Essen können wir morgen. Lass mich erst mal einen Blick in die Bücher tun, Umsatzzahlen, Außenstände bei den Großhändlern, Werbekosten, den ganzen Kram. Und bitte deine Leute, noch hierzubleiben.«
»Es ist natürlich alles schon vorbereitet«, antwortet er in gekränktem Ton.
»Ich sehe, bei dir herrscht Disziplin wie bei der Armee. Dann wühle ich mich jetzt ein Stündchen durch den Papierkram,
anschließend unterhalte ich mich mit deinen Mitarbeitern, und dann verhören wir die Großhändler.«
Einen solchen Bienenfleiß hat Guljakin von mir bestimmt nicht erwartet. Seinen Informationen entsprechend hatte er sich auf eine eher entspannte Visite eingestellt, schließlich habe ich den Ruf eines notorischen Nichtstuers, der sich mehr für das Nachtleben interessiert als für die Arbeit. Tja, man soll sich eben niemals auf andere verlassen. Eine knappe Stunde später bin ich mit den Geschäftsbüchern durch und rufe nacheinander die einzelnen Verkaufsmanager zu mir. Ich befrage sie nach ihren Leistungen und erkundige mich nach ihrer persönlichen Meinung über die Einführung des Direktverkaufs. Alle versichern mir unisono, dass die erforderlichen Kosten die Umstellung auf den Direktvertrieb ihrer Meinung nach unrentabel machten, dass der Markt für so große Umfänge noch lange nicht bereit sei. Sie sprechen von dem Risiko möglicher Zahlungsprobleme aufseiten des Einzelhandels, die im Moment von den Großhändlern aufgefangen würden. Ich konstatiere, dass Guljakin ausgezeichnete Vorarbeit geleistet hat. Sein Personal ist fest davon überzeugt, dass jede Veränderung nur zu ihrem Nachteil sein kann.
Zwischendurch wirft Guljakin immer mal wieder einen Blick herein, erkundigt sich, ob alles in Ordnung sei und schickt regelmäßig seine Sekretärin mit Kaffee.
Irgendwann klingelt mein Handy, mein Petersburger Internetbekannter Mischa meldet sich mit »Sieg Heil!«. Mischa interessiert sich brennend für die Geschichte des Dritten Reiches. Kürzlich wollte er mir sogar auf die Nase binden, sein Großvater sei Deutscher gewesen und während der Leningrader
Blockade in Gefangenschaft geraten. Nach dem Krieg sei er dann hier sesshaft geworden, habe eine Familie gegründet und Kinder in die Welt gesetzt. Als großväterliches Erbe, verkündete Mischa das Fazit seines rührseligen Märchens, habe er dessen arische Charakterstrenge und ein rostiges Bajonett mitbekommen. Da ich keinerlei Material in den Händen habe, das seine Behauptungen widerlegen könnte, muss ich ihm wohl glauben.
Also antworte ich jetzt brav: »Und mit deinem Geiste!«
»Bist du noch in deinem Dorf oder schon in der Hauptstadt?«, grient Mischa.
»In der Hauptstadt natürlich, in Petersburg.«
»Und, was hast du für Pläne?«
»Ich dachte, wir rauchen zusammen eine Tüte, was sonst. Wie sieht’s bei dir aus? Alles wie abgemacht?«
»Bei mir ist es wie bei einem U-Boot: Es gibt ein Ziel und eine Entfernung. Alles andere ist Nebensache.«
»Wann wollen wir den Torpedo loslassen?«
»Ich denke, so um neun bin ich klar zum Auftauchen, schaffst du das?«
»Jawoll!«
»Na dann, mach’s gut, meine Karte ist gleich leer.«
Das heißt also, der bevorstehende Abend ist der Vergeistigung gewidmet. Das gibt mir den Optimismus zurück, den ich heute Morgen so stark vermisst habe.
Ich trinke noch einen Kaffee, verabrede mit der Verkaufsmanagerin Mascha für die zweite Tageshälfte eine Tour durch die Verkaufsstellen und erledige ein paar Telefonate. Anschließend gehe ich auf die Toilette, wo ich versuche, meine Müdigkeit mit kaltem Wasser wegzuspülen.
Dann trödele ich noch zwanzig Minuten gähnend durch’s Büro.
Im Zimmer der Sekretärin steht ein Radio, in dem gerade leise »Hunting High and Low« spielt, einer meiner Lieblingssongs der Truppe A-Ha. Ich setze mich auf den Besucherstuhl, grinse dümmlich vor mich hin und fange sogar an, halblaut mitzusingen. Eine wohlige Mattigkeit überfällt mich, ich möchte gern jemandem den Kopf auf die Schulter legen und vielleicht sogar ein bisschen weinen. Für einen kurzen Augenblick wird mir ganz wohl und ruhig. Ich möchte am liebsten ganz still dasitzen und mich überhaupt nicht mehr bewegen. Alles um mich herum scheint erstarrt, wie im Märchen. Minutenlang verbleibe ich so in diesem
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