Seelenkuss / Roman
Wachen schuf, oder war er sein Überbringer?«
»Teils, teils, glaube ich. Zuerst dachte ich, er lügt, oder hoffte es vielleicht. Als ich schließlich akzeptierte, dass er die entsetzliche Wahrheit sagte, war es für mich zu spät.« Reynard wandte den Blick ab und hinauf an die schattige Zimmerdecke. »Also zog ich mein Schwert und tötete ihn. Er sollte auf keiner Schwelle mehr erscheinen, Familien zerstören und junge Männer in die Hölle verbannen.«
»Deshalb gab es nach dir keine neuen Wachen mehr«, murmelte Ashe.
»Ich brach den Zauber, indem ich Bartholomew vernichtete. Zuerst habe ich die Vorstellung genossen, mir eingebildet, ein heimlicher Held zu sein, ehe ich erkannt habe, dass die verbliebenen Wachen einen verlorenen Kampf ausfochten. Bis Mac kam, gab es keine Rekruten mehr, die uns halfen, die Burg unter Kontrolle zu bringen.«
»Du hast das Leben deines Bruders gerettet«, erinnerte sie ihn und verwob ihre Finger mit seinen. »Und wer weiß, wie viele andere, die nach dir gekommen wären.«
»Einen Mann zu töten stellt dennoch eine furchtbare Tat dar, ganz gleich, warum oder wie oft man sie begeht.«
Ashe legte ihren Kopf auf Reynards Schulter. »Ich wirkte einen Zauber, als ich sechzehn war. Er hat meine Eltern umgebracht und meine Magie zerstört, beinahe auch Hollys. Ich wollte nicht, dass es so weit kommt, aber meine Arroganz hat mich verleitet.« Ihre Stimme klang schwach und weich, wie ein Tuch, das durch zu viele Hände gewandert war.
Reynard legte einen Arm um sie und küsste sie aufs Haar. »Wir geben ein recht eigenwilliges Paar ab.«
Einen Moment lang war Ashe still, ehe sie leise sagte: »Es fällt mir leichter, darüber nachzudenken, wenn ich nicht allein bin.«
Die Worte rührten an sein Herz, denn er wusste sehr wohl, was sie meinte. Mehrere Minuten lang lagen sie so da, während Reynard in der Wärme Ashes und des Bettes einschlummerte.
Schließlich rollte sie sich herum, so dass sie auf seine Brust aufgestützt war, das Kinn auf ihre Hände gelehnt. »Mir ist noch nie ein Hexer begegnet. Wie gesagt, ich dachte, es gäbe niemanden mehr aus den alten Familien.«
Vielleicht bedeutet das, dass der Orden ausgestorben ist.
»Wir sind genau wie Hexen, nur dass bei uns die Magie väterlicherseits weitergegeben wird, nicht mütterlicherseits.«
»Doch du hast nicht gewusst, dass du ein Hexer bist? Ich meine, Hexen kommen in das Alter, in dem sie ihre Magie merken, ungefähr in dem Alter, in dem Eden jetzt ist. Da kann man nicht übersehen, was los ist.«
Reynard überlegte. »Bei uns muss es anders gewesen sein. Wenn ich zurückdenke, gab es Anzeichen. Ich hatte zum Beispiel immer ein außergewöhnlich gutes Gehör. Aber da war nichts, was man nicht irgendwie hätte erklären können. Hexermagie muss erweckt werden. Ich lernte erst, was für meine Pflichterfüllung nötig war, als ich Wächter wurde.«
»Wie ein Gewehr gerade schießen zu lassen?« Ashe bedachte ihn mit einem verschmitzten Augenzwinkern.
»Ja, unter anderem.«
Er spürte, wie die Worte in das sanfte Zwielicht des Zimmers entschwebten, denn er dachte nicht mehr an Bartholomew. Stattdessen entsann er sich des letzten Males, das er verwundet in Ashes Armen gelegen hatte, während drumherum die Schlacht um die Burg tobte. Auch da hatte sie auf ihn geachtet, sanft und entschlossen zugleich. Ein solcher Trost widerfuhr keinem Wächter, und dennoch war er hier, ein zweites Mal in diese Wohligkeit gebettet.
Er mochte verflucht sein, aber er war zweifellos auch gesegnet.
Ashe strich ihm über die Stirn, bis er in einen traumlosen Schlaf sank.
»Du hast meine kleine Tochter gerettet«, flüsterte sie. »Das werde ich nie, niemals vergessen.«
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20
Montag, 6. April, 8.00 Uhr Carver-Haus
F rüh am nächsten Morgen saß Ashe Eden gegenüber auf dem Fußboden ihres alten Zimmers im Carver-Haus und hörte sich noch einmal an, was ihre Tochter von der Entführung berichtete, von Anfang bis Ende. Eden hatte es am Abend zuvor schon allen erzählt – Mac, Alessandro und Holly eingeschlossen – und dann ein weiteres Mal nur Ashe, als diese ihre Tochter auf dem schmalen Bett mit dem rosa Quilt in den Armen hielt. Ashe war froh, dass Eden körperlich unversehrt war, aber sie ertrug den Gedanken nicht, was hätte geschehen können, wäre Reynard nicht auf die Idee gekommen, in der Burg nach ihr zu suchen.
Dies war das Zimmer, in dem Eden schlief, wenn sie ihre Tante besuchte. Ashes alte Sachen waren
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