Seelenkuss / Roman
war ohnmächtig; seine Brust hob und senkte sich wie bei einem Schlafenden, was geradezu höhnisch anmutete.
»Recht nobel. Ich hoffe, Sie haben ihm nicht den Kiefer gebrochen«, bemerkte Bartholomew trocken. »Aber Ihre Heldenhaftigkeit ist fruchtlos. Es muss der Erstgeborene sein.«
Reynard neigte nachdenklich seinen Kopf. Faulkners Gesicht sah ziemlich normal aus, auch wenn er gewiss noch einen Bluterguss bekäme. Egal. Reynard würde gehen, und sein Bruder wäre nicht entehrt.
»Welch ein Jammer! Nun, Sie bekommen mich oder gar nichts.«
Der kleine Gewaltausbruch hatte seine Fassung wiederhergestellt, all die vagen, märchenbedingten Kindheitsängste auf ihren Platz verwiesen – in die Kindheit. Er würde sich dieses Burgunsinns annehmen und anschließend das erste Schiff zurück nach Indien nehmen.
Unerwartete Gefühle verschleierten ihm die Sicht. Faulkner war aufrecht, mutig, menschlich und würde im Angesicht ernster Gefahr keine Stunde bestehen. Reynard biss die Zähne zusammen und verdrängte alles Rührselige. »Erzählen Sie mir, wohin ich gehen muss, um diesen Unfug zu erledigen!«
Bartholomew nickte bedächtig. »Eine unvorhergesehene Wendung, aber nun gut. Wir reisen sofort ab. Lassen Sie einen Diener packen, was Sie auf einen langen Feldzug mitnehmen möchten. Vornehmlich so viele Waffen, wie Sie irgend tragen können. Ich treffe Sie vorn am Torhaus.«
Obgleich er jahrelange Erfahrung darin hatte, sein Lager von einem Moment auf den anderen zu verlegen, war der plötzliche Marschbefehl beängstigend. »Werde ich Proviant brauchen?«
Batholomew wirkte seltsam verlegen. »Nein.«
Reynard schlug die Augen auf. Sein Atem ging langsamer, sowie er begriff, dass er lediglich die ferne Vergangenheit nochmals durchlebt hatte. Es war nicht real. Er befand sich in demselben fremden Zimmer. Alles war dunkel bis auf eine Lampe in einer hinteren Ecke. Reynard tat alles weh.
Aber Ashe lag im Bett neben ihm und sah ihn an. Ihre leuchtend grünen Augen wurden von dem schwachen Licht gedämpft.
»Du bist wach«, sagte sie leise und strich über seine Stirn. »Wir sind bei Holly. Hier ist es geschützter.«
»Eden?«
»Eden ist in Sicherheit. Mac hat Miru-kai gefangen genommen.«
Er fühlte sich besser. Unwillkürlich legte er eine Hand auf seine Brust, die in der Burg so geschmerzt hatte. Das Pochen war fort. Teils war das dem Umstand geschuldet, dass er sich in derselben Dimension aufhielt wie seine Urne, aber die Heilung ging tiefer.
Ashe schien seine Gedanken zu lesen. »Grandma und Holly haben eine Medizin gemischt. Sie sollte dir für eine Weile helfen. So gewinnen wir ein bisschen Zeit.«
»Wie viel Zeit?« Sie schien nichts außer einem langen T-Shirt zu tragen, das ihr zwar über die Oberschenkel reichte, ihre wohlgeformten unteren Beine jedoch entblößt ließ.
Auf einmal war die Vergangenheit nur noch, was sie eben war: vergangen und vorbei. Mit Ashe an seiner Seite war es möglich, in die Zukunft zu schauen.
Er würde jedwede Zukunft nehmen, die er bekommen konnte, solange sie nur darin vorkam.
»Was hast du geträumt?«, fragte sie. »Es sah wie ein Albtraum aus.«
Er erzählte alles – ihr, dem ersten Menschen überhaupt, dem er verriet, wie er einst in die Burg gelangt war. Nie zuvor war er imstande gewesen, diese Worte über die Lippen zu bringen. »Bartholomew teilte mir mit, dass es eine begrenzte Anzahl Familien gab, welche die richtige Magie besaßen, um die Wachen zu stellen – Fähigkeiten, die sich vom Vater zum Sohn vererbten. Es handelte sich um die Hexerdynastien, aus denen sich der Orden rekrutierte.«
»Hexerdynastien?«, wiederholte Ashe verwundert. »Ich dachte, die wären längst ausgestorben.«
»Was mich nicht erstaunen würde. Alle zehn Jahre wurde ein Erstgeborener per Losverfahren ausgewählt und musste in die Burg. Es war ein magischer Pakt, den der Orden schloss, auf dass die Ungeheuer bewacht blieben. In jenem Jahr war es unsere Familie, die ihren Beitrag leisten musste.«
»Und du hattest keine Ahnung?«
»Nein.«
»Hmm.« Ashe runzelte die Stirn. »Und was ist passiert, als du den Typen beim Torhaus getroffen hast? Wer war er eigentlich?«
»Bartholomew war derjenige, der von Haus zu Haus reiste und die schlechte Neuigkeit übermittelte. Er war selbst ein Unsterblicher und erledigte diese Arbeit, seit der Pakt vor Tausenden von Jahren geschlossen worden war.«
Ashe blinzelte und kräuselte ihre Stirn noch mehr. »Gehörte er zu dem Zauber, der die
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