Seelenkuss / Roman
größtenteils verschwunden: all die Dinge, die man als Teenager enorm wichtig fand. Aber die gelben Vorhänge waren vertraut, genau wie der Winkel, in dem die Sonne auf den Boden schien. Dieses Bild weckte süße und schmerzliche Erinnerungen.
Mehrmals strich Ashe ihrer Tochter die dunklen Locken aus dem Gesicht, weil sie nicht aufhören konnte, Eden zu berühren. Offenbar brauchte ein Teil von ihr den körperlichen Kontakt, um sich zu vergewissern, dass ihr Kind wirklich in Sicherheit war.
»Ich hatte bloß Angst«, sagte Eden. »Mir tat ja nix weh oder so, und Miru-kai war ehrlich nett. Ich meine, ich war echt froh, Captain Reynard zu sehen, aber mir ging’s nicht richtig schlecht.«
Eden hatte ihre Geschichte bereits ein paarmal erzählt, aber jedes Mal tauchte etwas Neues auf. Heute war es, dass der Dunkelfeenprinz genau wusste, wie Ashes Eltern gestorben waren. Das war unmöglich. Diese Details kannten nur sehr wenige in der magischen Gemeinde. Was nebenbei bewies, wie gut das Informantennetzwerk des Prinzen funktionierte.
Wichtiger war, dass er Eden alles erzählt hatte. Für Ashes Begriffe war das für sich genommen schon ein Verbrechen, ob er es wollte oder nicht. Niemandem kam das Recht zu, die Geheimnisse anderer auszuplaudern. Dennoch schien es, als hätte er Eden vor den Vampiren gerettet. Allerdings wussten sie bisher auch nicht, was der Prinz selbst mit ihr vorgehabt hatte. Gemäß Mac schwor Miru-kai momentan Stein und Bein, dass er sie zu Ashe hatte zurückbringen wollen.
Wahrscheinlich würden sie nie die Wahrheit erfahren. Fakt war, dass Dunkelfeen Kinder entführten. Folglich hatte Mac nicht die Absicht, den Prinzen bald wieder freizulassen.
»Willst du, dass ich dir das mit dem Zauber damals verzeihe?«, fragte Eden und sah zu Ashe auf. »Denn das tue ich. Jeder macht Fehler, manchmal auch schlimme. Guck dir Onkel Mac an. Der hat sich zu einem Dämon machen lassen, und wir mögen ihn trotzdem noch, oder?«
Ashe war sprachlos, und ihr Magen benahm sich komisch. Woher kam das? »Was ich getan habe, ist unverzeihlich. Niemand kann mir vergeben.«
»Ich schon. Siehst du?« Eden lächelte schief. »Und du musst magisch fit sein, wenn ich meine Hexenkräfte kriege, weil du aufpassen musst, dass ich keine schlimmen Fehler mach.«
Für einen Moment konnte Ashe ihrer Tochter nicht in die Augen sehen. »Ich bin längst nicht mehr auf der Höhe. Meine magischen Kräfte wurden damals zerstört.«
Edens Lächeln wurde breiter. »Deshalb bist du trotzdem noch meine Mom. Und Moms sind immer auf der Höhe.«
Ashe schnaubte. »Erzähl mir das mal nach sechs Waschmaschinenladungen!«
»Guck mal.« Eden schloss die Augen und streckte ihre Hand aus, die Handfläche nach oben. Neugierig und besorgt zugleich beobachtete Ashe sie und fragte sich, was jetzt kommen würde. Zunächst war da nichts als Sonnenlicht, die Rundung von Edens Wange und das friedliche Gefühl des Hauses. Dann aber geschah es: eine kleine Wolke von leuchtend blauen Funken erschien über Edens Hand. Ashe kamen die Tränen. Sie erkannte den Zauber sofort; er gehörte zu Grandmas Anfängerübungen.
»Du wirst erwachsen«, sagte sie heiser, nahm den blauen Funkenball auf und ließ ihn über ihre Finger rollen. »Viel zu schnell.«
»Huch!« Eden staunte, als ihre Mutter mit dem Licht spielte. »Hast du nicht gesagt, du kannst keine Magie mehr wirken?«
»Na ja, eine totale Null bin ich auch wieder nicht. Ich bin immer noch eine Hexe.«
Es gab Dinge, die sie Eden niemals erzählen würde. Ganz besonders nicht, dass sie sich nie bemüht hatte, ihre Magie wieder zu heilen. Vielleicht wäre es möglich gewesen. Immerhin hatte Holly es geschafft.
Nein, Ashe wusste nicht, ob ihre magischen Kräfte wiederhergestellt werden konnten, und so wollte sie es. Als ihre Eltern gestorben waren, gab es keine Gesetze gegen Mord durch Zauberkraft, also hatte Ashe sich ihre Strafe selbst auferlegt: ein Leben, in dem sie für alles taub und blind war, ausgenommen die schlichtesten Energiefelder. Sinne, über die sie früher verfügt hatte, besaß sie nicht mehr.
Hexen mit genügend magischen Kräften konnten unsterblich sein. Doch wenn sie nicht sehr viel mächtige Magie nutzte, würde Ashe altern und sterben wie jeder normale Mensch. Manche Hexen entschieden sich auch für diesen Weg. Ihre Grandma beispielsweise hatte beschlossen, sich ihrem menschlichen Ehemann anzupassen, und der Zeit erlaubt, sie zu zeichnen. Ashe plante, ihr endliches Leben
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