Seelenkuss
wissen, von wem es stammte. Sein Haar glänzte feucht. Mirija oder Niéne mussten es mit einem nassen Kamm entwirrt haben. Im dunstigen Morgenlicht erinnerte es sie erneut an das Gefieder eines Kellfalken. Es schien jede Farbnuance zu enthalten, die es zwischen tiefem Schwarz und dunklem Braun gab. Dazwischen schimmerten einzelne hellere Fäden, die ockern oder elfenbeinern glänzten. Wimpern und Brauen wirkten auf seiner blassen Haut noch dunkler als gewöhnlich. Neben der Bahre blieb sie stehen und erwiderte Mirijas Lächeln. Die junge Frau nahm Darejan ihr Kleid aus den Armen. » Ich gebe es Alira aus meinem Dorf. Sie wird es für dich waschen, wenn wir später Rast machen « , versprach sie und neigte den Kopf in Richtung des DúnAnór. » Sie hat auch schon seine Sachen zum Saubermachen. Allerdings ist sein Hemd so zerschlissen, dass es eigentlich nur noch zum Wischlumpen taugt. Schade um die schöne Adeshwolle. « Sie wich einen Schritt zurück und zog Darejan mit sich, als vier Isârden-Krieger die Bahre vom Boden aufhoben. An den Stangen waren breite Lederriemen festgemacht, die sich die Männer über die Schultern schlangen, um sie bequemer tragen zu können. Die Hand des DúnAnór war bei der Erschütterung unter der Decke hervorgeglitten und hing jetzt schlaff über den Rand. Darejan wollte sie wieder unter die Tücher zurückschieben, doch sie zögerte. Man hätte meinen können, er sei bereits für seine Bestattung aufgebahrt, damit Freunde und Familie von ihm Abschied nehmen könnten. Er wirkte so still, so verloren. Das Gefühl seiner Finger, die kalt und leblos in ihren lagen, weckte plötzlich den Drang in ihr, ihn nicht loszulassen. So als könne sie dadurch, dass sie seine Hand in ihrer hielt, verhindern, dass er sich unbemerkt endgültig aus dem Leben stahl.
Das Geräusch von Hufen ließ sie aufblicken. Neben ihr stand Oqwen und hielt zwei Ragon am Zügel. Er streckte ihr die des kleineren Tieres entgegen.
» Ich nehme an, ihr könnt reiten, Korun. «
Einen Moment zögerte sie, doch dann schüttelte sie den Kopf und trat näher an die Bahre. » Nein, danke. Ich bleibe bei ihm. « Ihre Hand schloss sich fester um die des Verrückten. Eine der Brauen des Kriegers hob sich. Er musterte sie etliche Herzschläge lang mit unergründlichem Blick, dann nickte er und schwang sich auf den Rücken seines Ragon.
» Wie ihr wollt, Korun « , brummte er, wendete das Tier und ritt davon. Das zweite führte er am Zügel hinter sich her. Ein Ruf erklang und der kleine Zug aus Flüchtlingen und Kriegern setzte sich langsam in Bewegung.
Wie Niéne ihr versprochen hatte, brachte ihr einige Zeit später einer der Krieger etwas zu essen. Sie verzehrte den Kanten Brot, während sie neben der Bahre herstapfte, lehnte aber das angebotene Bier mit einem höflichen Kopfschütteln ab.
Die Stunden verrannen nur zäh. Ein paar Mal öffneten sich die Augen des DúnAnór, ohne dass Leben in sie zurückgekehrt wäre. Jedes Mal war es Darejan, die ihm die Lider sanft wieder schloss, und mit jedem Mal wurde das Gefühl der Verzweiflung in ihr stärker. Er würde nicht aufwachen.
Die Krieger, die die Bahre trugen, wechselten sich mit den anderen Isârden alle paar Stunden ab. Während sich die einen die Riemen über die Schultern schlangen, stiegen die anderen in die Sättel der Ragon und galoppierten voraus, um den Weg vor ihnen zu erkunden, oder nahmen die Plätze ihrer Kameraden entlang der Schar Flüchtlinge ein, um sie nötigenfalls vor einem Angriff beschützen zu können. Dabei hielten sich immer vier oder fünf von ihnen in direkter Nähe der Bahre auf und ließen wachsam die Blicke schweifen.
Einige Zeit vor Mittag kamen die ausgeschickten Späher zurück. Bei ihnen war ein knappes Dutzend zerlumpter Gestalten. Frauen, Alte und Kinder. In dieser Nacht hatten die Söldner zusammen mit den Korun zwei weitere Dörfer überfallen und in Schutt und Asche gelegt.
Unter den Flüchtlingen waren dieses Mal auch ein paar junge Burschen, die es irgendwie geschafft hatten, den Angreifern zu entkommen. Einer von ihnen bemerkte Darejan und spuckte mit einem verächtlich gezischten » Korunhure « vor ihr aus. Er hatte den Mund noch nicht geschlossen, da hatte einer der Krieger ihn schon am Kragen gepackt, ihm eine schallende Ohrfeige verpasst und ihm zornig geraten, auf sein Mundwerk zu achten, wenn er » von der Frau des DúnAnór « sprach. Die geforderte Entschuldigung brachte der Junge in erschrockenem Stammeln hinter sich,
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