Seelenkuss
geschehen war.
Sie hatten bei einem kleinen Gehöft Brot, Fleisch und ein paar Äpfel erstanden. Der Bauer hatte sie, erstaunt darüber, dass der Verrückte die ganze Zeit schweigend und abwesend vor sich hin gestarrt hatte, gefragt, wer er sei und was mit ihm nicht stimmte. Auf Darejans Antwort, er sei ihr Halbbruder und nicht ganz richtig im Kopf, war er abrupt zu ihr herumgefahren und hatte sie so giftig angestarrt, dass sie fürchtete, er würde sich im nächsten Moment auf sie stürzen.
Müde strich sie sich eine wirre Strähne aus der Stirn. Inzwischen betete sie zu den Sternen, dass sie in Rokan tatsächlich einen Hinweis darauf finden würde, wo sich die Ordensburg der DúnAnór befand, damit sie ihn endlich loswurde.
Sie sah ihn über die Schulter hinweg an. Die Wunde auf seiner Brust hatte sich geschlossen und sein Fieber war verschwunden. Trotzdem wollte die Erschöpfung nicht aus seinen Zügen weichen. Wie immer erwiderte er ihren Blick schweigend. Seit jenem verzweifelt hoffnungsvollen »N ach Hause? « hatte er kein Wort mehr gesagt. Prüfend ließ sie die Augen über sein Gesicht wandern. Der Bauer hatte ihnen offensichtlich nicht geglaubt, dass ein Jarhaal der Halbbruder einer Korun sein könnte, deshalb verbarg seit dem Morgen eine Mischung aus Erde und dem Saft von Jalisrinde und Villabeeren die Edelsteintätowierungen an seiner Stirn und seinem Ohrläppchen. Mit einem Blick zu seinen Händen vergewisserte sie sich, dass die Ärmel seines Hemdes die eisernen Ringe an seinen Gelenken verdeckten, dann drehte sie sich wieder um und schnalzte dem Pferd aufmunternd zu. Sie konnte nur hoffen, dass man ihr in Rokan glaubte, dass diese abgerissene, dreckige Gestalt tatsächlich ihr schwachsinniger Halbbruder war.
Als sie die Mauern Rokans erreichten, begann die Dämmerung gerade über den goldenen Teppich der Felder zu kriechen, die die Handelsstadt umgaben. Auf der Straße drängten sich die Fuhrwerke von Bauern aus der Umgebung, zusammen mit Karawanen aus weit entfernten Städten. Eine Herde zotteliger Naldjarinder, deren Gemuhe schon aus der Ferne zu hören gewesen war, versperrte die Straße. Ihr Besitzer musste sich wüste Beschimpfungen von den anderen Händlern und Reisenden anhören, die alle noch in die Stadt gelangen wollten, ehe die Tore für die Nacht geschlossen wurden.
Schließlich passierten sie die mehr als fünf Schritt breite Stadtmauer. Wachen lehnten scheinbar nachlässig an der Mauer des Tordurchgangs, dennoch fühlte sich Darejan scharfbeobachtet. Der Blick eines der Soldaten fiel auf das Schwert, das noch immer am Sattel des Fuchses hing. Plötzlich wünschte sie sich etwas, mit dem sie die Waffe hätte verbergen können.
Ein Mann bedeutete ihr anzuhalten, griff in die Zügel des Pferdes. Auf seinem blaugrauen Mantel war das Wappen der Handelsgilde Rokans eingestickt.
» Hanon zum Gruß, Fremde. Seid ihr Reisende oder Händler? « , erkundigte er sich höflich, während er einen Jungen mit einer Fackel näher heranwinkte.
» Wir sind Reisende, Torvogt. Und wir… « Sie stockte, als sie bemerkte, wie der Mann sie mit einem Mal musterte. Sein Blick ging von ihr zu dem Verrückten, heftete sich wieder auf Darejan, betrachtete sie eingehender. Hinter ihm rümpfte der Fackelträger die Nase.
» Wir… «
Eine harsche Geste gebot ihr zu schweigen. » Ich bekomme vier Kupferdoren von dir. «
» Was? « Verblüfft sah Darejan ihn an. » Wofür? «
» Hurensteuer! «
Vor Empörung blieb ihr einen Moment lang die Luft weg.
Der Torvogt blickte den Verrückten hinter ihr an. » Auf Diebstahl stehen zwanzig Peitschenhiebe und drei Tage mit dem Ohr am Galgenpfahl. Wem das keine Lehre ist, der verliert beim zweiten Mal beide Ohren und beim dritten die Finger– zusätzlich zu jeweils fünfzig Hieben. Verstanden? «
» Ich bin keine… « Erst jetzt hatte Darejan ihre Sprache wieder gefunden.
Mit einem verächtlichen Schnauben wandte der Mann sich ihr wieder zu. » Nein, natürlich nicht.– Du hast die Wahl: Du bezahlst oder du verschwindest von hier. Ich kann euch aber auch gleich in den Gerichtsturm werfen lassen. Die anderen Weiber werden dir dein hübsches Gesicht mit Begeisterung zerkratzen.– Nun, was soll es sein? «
Sie presste die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen.
Eine der Wachen trat lässig heran. » Probleme, Torvogt? «
» Die Hure weigert sich, die Steuer zu bezahlen. «
» Ich bin keine… «
» Vielleicht hat sie das Geld ja nicht. « Die Hand des
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