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Seelenkuss

Seelenkuss

Titel: Seelenkuss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lynn Raven
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Brot ab. » Iss! «
    Nach einem Augenblick ergriff er den Löffel, der aus der Tonschale ragte, hob ihn aus der dicken Suppe, schnupperte misstrauisch daran– und legte ihn wortlos zurück.
    Darejan hatte sich auf der anderen Seite des Tisches niedergelassen und sah mit gerunzelter Stirn zu, wie er die Schale beiseitestieß, aufstand und sich mit Brot und Bier auf einem der beide Strohsäcke niederließ, wo er beides langsam zu verzehren begann. Nachdem sie ihrerseits den ersten Bissen gekostet hatte, konnte sie verstehen, warum er den Eintopf verschmäht hatte, und schob die Schale ebenfalls von sich.
    Als der Schankknabe schließlich mit dem heißen Wasser an der Tür klopfte, hatte der Verrückte sich schon längst auf seinem Lager in seine Decke gewickelt. Seine gleichmäßigen Atemzüge verkündeten, dass er schlief. Der Junge spähte unsicher zu der dunklen Gestalt auf dem Strohsack hin, während er den dampfenden Eimer und eine Waschschüssel zum Tisch trug, als erwartete er, der Mann würde sich im nächsten Atemzug brüllend auf ihn stürzen. Immer wieder zu dem Verrückten hinschielend, berichtete er mit gedämpfter Stimme, dass er das Pferd in den Stall gebracht und gut versorgt hätte. Das schmutzige Wasser könne sie einfach in den Hof hinunterkippen. Sie musste nur darauf achten, dass gerade niemand unter ihrem Fenster vorbeiging.
    Darejan dankte ihm mit einem Kupferdoren und bat ihn, das Tablett und die beiden Eintopfschalen mit hinunterzunehmen. Nach dem Aufleuchten in den Augen des Jungen zu urteilen, würde ihr Inhalt auf dem Weg in die Küche auf wundersame Weise verschwinden. Mit einem Lächeln schloss Darejan die Tür hinter ihm, doch es erlosch, als sie zu dem Verrückten hinblickte. Er hätte seinen Teil heißes Wasser eigentlich gut vertragen, doch da er direkt nach dem Essen in einen unruhigen Schlaf gefallen war, wollte sie ihn nicht wecken. Dass diese Erschöpfung nicht weichen wollte, war seltsam. Darejan lauschte kurz auf seine Atemzüge und beschloss, dass sie es wagen konnte, mehr als nur Hände und Gesicht zu waschen, nachdem noch nicht einmal das Klopfen des Jungen und ihr kurzes Gespräch ihn hatten wecken können.

22
    D as Zittern war mit der Dunkelheit gekommen. Kälte und Schreie und jener qualvolle Nebel. Er kroch auf ihn zu, streckte sich nach ihm aus, wollte ihn in jene andere Dunkelheit zerren. Angst legte sich um seine Glieder, um seine Kehle, ließ ihn keuchend nach Luft ringen. Er klammerte sich an die Geräusche, die aus der Schankstube herauf drangen. An die Stimmen und das Gelächter. Das Poltern von Schritten vor der Tür. An die leisen Atemzüge der Frau auf der anderen Seite des Zimmers. Klammerte sich daran, bis die Dunkelheit ihn zu ersticken drohte und er sie nicht mehr ertrug. Er sprang auf, taumelte zum Tisch, tastete nach der Kerze, nach etwas, womit er sie anzünden könnte. Seine Hände zitterten so stark, dass er den Schwefelstein kaum halten konnte, als er ihn irgendwann gefunden hatte. Endlich wuchs die kleine Flamme am Docht empor. Ihr Licht trieb die Kälte und die Schreie zurück. Hielt sie in Schach. Zwang den Nebel zurück. Nur allmählich ließ das Zittern nach. Ein leises Rascheln erklang, und er blickte dorthin, wo die Frau unter ihren Decken lag. Die Frau… Ein gellendes » Nein! « . Schmerz, der durch seinen Hals fährt. Ihn in zähes Grau reißt. Ein Grollen überall. Ein Schatten, er greift nach ihm. Die Frau reißt die Arme empor. Der Wind mit dir, Bruder. Nur ein verwehtes Flüstern. Ein Stoß zwingt ihn zurück in den Schmerz. Gleißendes Licht. Wütendes Heulen wird zu Gelächter. Etwas in ihm zerreißt. Bruder … Nein! Allein! – Mörderin! Das Schluchzen brach aus seiner Kehle, schüttelte seinen Körper. Dunkelheit verschlingt ihn. Schmerz und Kälte lauern in ihr. Schlagen über ihm zusammen. Reißen ihn hinab, hinab … Dorthin, wo niemand seine Schreie hört.
    Als sein Denken zurückkehrte, hockte er mit dem Rücken an die Wand gepresst und hatte die Arme um den Kopf geschlungen. Jeder Muskel in seinem Körper war verkrampft und stand in Flammen, und doch war dieser Schmerz nichts gegen die Qual jenes grausam kalten Nichts, das noch immer lauernd um die Grenzen seines Verstandes strich. Eine Qual, die selbst verblasste, neben dem entsetzlichen Gefühl der Leere in seinem Geist, dem vagen Gefühl einer Erinnerung an eine Präsenz, etwas, das eigentlich da sein müsste, weil es ein Teil von ihm war… Nackte Pein flammte durch

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