Seelenkuss
seinen Kopf. Mit einem Stöhnen krallte er die Finger in sein Haar. Plötzlich zitterte er wieder am ganzen Körper. Seine Atemzüge verwandelten sich in etwas, das kaum mehr war als ein schweres Keuchen, in das sich immer wieder ein Wimmern mischte. Er presste die Zähne zusammen, um den Laut zu dämpfen und die Frau auf der anderen Seite des Raumes nicht zu wecken. Die Mörderin, die schuld war an allem; allem; allem… Und doch die einzige Verbindung zu dem, was gewesen war. Seine einzige Erinnerung…
Nur langsam gelang es ihm, das Zittern zurückzudrängen, seinen Atem zu beherrschen, seine gespannten Muskeln zu lösen, die Arme herunterzunehmen. Mit einem stieß er gegen etwas Hartes, Wasser schwappte, ein paar Tropfen trafen seine Haut. Sie waren warm. Warm! Mit einem Mal hämmerte sein Herz hart gegen seine Rippen. Er schob sich steif an der Wand entlang in die Höhe, hob den Eimer erschreckend mühsam vom Boden auf und goss einen Teil des Wassers in die Waschschüssel auf dem Tisch, stellte ihn dann leise auf seinen Platz zurück. Langsam tauchte er die Hände ins Wasser, spürte die seidige Wärme zwischen seinen Fingern, auf seiner Haut. Mehrere Atemzüge stand er reglos, mit gesenktem Kopf und halb geschlossenen Lidern und genoss das Gefühl von warmem Wasser auf der Haut. Ein Gefühl, das so vertraut war, dass es seine Augen brennen ließ und seine Brust zusammenschnürte. Manchmal stieg dieses Gefühl des Vertrautseins aus dem Nebel und der Kälte auf. Der Geruch eines warmen Pferdekörpers, eines erloschenen Holzfeuers, der Griff eines Schwertes in seiner Hand. Sie waren einfach da. Ebenso, wie er Dinge manchmal einfach wusste. Wie man ein Schwert gebrauchte, es jemandem aus der Hand rang, einen Schlag abfing, ein Pferd nur mit den Knien lenkte… Er presste die Lider fester zusammen. Doch jedes Mal riss ihn der Versuch, sich an mehr zu erinnern, in Schmerz, Kälte und graue Leere zurück. Eine Leere, aus der er sich kaum wieder befreien konnte.
Ein leises Murmeln ließ ihn zusammenzucken, zu der Frau hinsehen. Ihr schwarzsilbernes Haar floss schimmernd über ihre Schultern, bedeckte halb ihr Gesicht. Er widerstand dem Drang, zu ihr hinüberzugehen, es durch seine Finger gleiten zu lassen wie zuvor das Wasser. Das Licht der Kerze verwandelte ihre perlmuttene Haut in Gold. Da war etwas, etwas… Er wollte es aus dem Nebel emporzwingen. Der Schmerz schlug seine Klauen in seinen Verstand, ließ ihn wanken. Sein Schrei wurde zu einem Zischen zwischen zusammengebissenen Zähnen. Die Frau reißt die Arme empor. Der Wind mit dir, Bruder. Nur ein verwehtes Flüstern. Etwas in ihm zerreißt. Bruder … Nein! Allein! – Mörderin! Er tauchte das Gesicht unter Wasser, bis seine Brust in ihrem Verlangen nach Luft in Flammen zu stehen schien, sein Denken aussetzte und den Schmerz mit sich fortnahm.
23
A m Morgen wurde Darejan von einem leisen Tschilpen geweckt. Für einen Moment völlig orientierungslos schaute sie zu dem Licht hin, das irgendwo über ihrem Kopf seinen Ursprung hatte. Das Erste, was sie sah, war der verschwommene Umriss eines winzigen Vogels. Sie blinzelte mehrmals, bis sie das braungoldene Federkleid eines Falkfinken erkannte, der im offenen Fenster saß und an etwas pickte, das fast größer war als er selbst. Noch immer verschlafen rieb sie sich die Augen und setzte sich auf. Erschreckt flatterte der Vogel davon. Ihr Blick begegnete dem des Verrückten, als er langsam den Kopf wandte und sie ansah. Sie zog die Decke höher über ihre Brust. Die Arme auf dem hölzernen Rahmen verschränkt, saß er am Fenster und hatte offenbar bis eben den Falkfinken mit Brotbrocken gefüttert.
» Guten Morgen. «
Ohne ihr zu antworten, wandte er den Blick wieder aus dem Fenster, der Sonne zu, die sich gerade langsam über die Dächer der Stadt erhob. Die Edelsteintätowierungen an seiner Stirn und dem Ohrläppchen blitzten. Darejan musterte ihn eingehender. Die Schmutzstreifen waren aus seinem Gesicht verschwunden. Er musste sich gewaschen haben, während sie schlief. Im weichen Morgenlicht sah es beinah so aus, als sei ein wenig Farbe in seine Züge zurückgekehrt. Doch die Linien, die Erschöpfung und Hunger in sie hineingegraben hatten, wollten scheinbar nach wie vor nicht weichen. Wenn es möglich gewesen wäre, hätte sie ihn zum Ausruhen gerne hier im Zimmer zurückgelassen, aber sie konnte es nicht wagen, ihn allein zu lassen. Ein bitteres Lächeln glitt über ihre Lippen. Sie streifte die Decke ab
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