Seelenkuss
riss sich voller Grauen aus den Dornenfesseln frei, entging dem Griff nur knapp, stolperte, fiel durch eisig wispernde Nebelschlieren, stürzte auf Hände und Knie. Heiß und rot rann es über ihre Arme. Gierig leckte der Nebel über ihre Haut, lebendig gewordene Kälte, tastende Finger. Darejan keuchte vor Entsetzen. Stöhnen und Seufzen antwortete um sie herum. Sie versuchte, auf die Füße zu kommen. Etwas hielt sie fest. Angst und Verzweiflung brachen als gellender Schrei über ihre Lippen, mischte sich mit einem zweiten, hell und wild, wie aus der Kehle eines Adlers. Mit einem Schlag war es still. Der Nebel wich zurück, trieb wispernd über die Ebene. Noch immer benommen vor Grauen, hob Darejan den Blick. In der blutigen Dunkelheit stand ein Mann, nur ein paar Schritt neben ihr, unendlich weit entfernt, den Kopf noch in dem Schrei in den Nacken gelegt, den er in den Himmel geschickt hatte. Nicht mehr als ein Schatten unter Schatten. Flüsternd und seufzend kroch der Nebel auf ihn zu, streckten sich Hände flehend nach ihm aus. Dann senkte er den Kopf, sah zu ihr her. Der Seelenmond verwandelte seine Augen in rotes Silber. Im gleichen Atemzug schloss sich der Kreis der Nebelschemen um ihn.
» Nein! « Darejans Schrei hallte unter der vollen Mondscheibe wider, ehe die Dunkelheit sie verschlang.
32
S chweigend beobachtete er, wie das blutige Rund des Mondes dem Scheitelpunkt seiner Bahn zustrebte. Einer seiner BôrNadár trat heran und verneigte sich. Alles war bereit. Mit einem Wink bedeutete er seinem grau gewandeten Diener, dass er an seinen Platz zurückkehren konnte. Dann zwang er den Körper der Korunkönigin dazu, sich zu bewegen. Zorn über dieses unzulängliche Gefäß brodelte in ihm auf, als er sich mit schlurfenden Schritten vorwärtsmühte. Er hatte angenommen, ihre Magie würde seine Kraft für eine Weile bewahren, doch es verging schneller, als er erwartet hatte. Schon seit Tagen konnte er den Hunger, der in ihm brannte, nicht mehr mit dem Leben der Sterblichen stillen, selbst wenn er sich der jungen und starken Krieger bediente. Und noch immer hatten weder seine Söldner noch die BôrNadár den DúnAnór zurückgebracht. Er presste die ehemals vollen, weichen Lippen Königin Selorans zu einem schmalen Strich zusammen und spürte, wie ihre pergamenten gewordene Haut aufriss und Blut hervorsickerte. Selbst den Kopfgeldjägern war er entkommen. Mit Prinzessin Darejan. Doch er kannte ihr Ziel.– Allerdings würde es dort keine Hilfe für sie geben. Nicht mehr. Das bittere Lächeln stahl sich ungebeten auf die Lippen der Korun-Königin. Auch er war vor all den Sonnenläufen dorthin zurückgekehrt, nachdem er Ileyran– seine Leyraan– verloren hatte. Angefleht hatte er sie damals, jeden einzelnen von ihnen. Selbst die, die nicht im Inneren Kreis der Klingen standen. Sie hatten ihm ihre Hilfe verweigert, ihm sogar verboten, ihrer Seele den Weg zurück über die TellElâhr zu weisen. Herzlose Brut! Selbst Kartanen hatte ihn fortgeschickt und ihm gesagt, er verstünde seinen Schmerz und seine Verzweiflung, doch er müsse es akzeptieren. Und das obwohl dieser verbohrte Korunnarr Leyraans Bruder war. Sie hatten die Qual nicht gespürt, hatten nicht begreifen können, wie es war, einen Teil seiner selbst zu verlieren. Leyraan war seine Nekromantia gewesen. Und seine Liebe.– Und er hatte sie verloren. Weil er versagt hatte! Also hatte er die alten, verbotenen Wege allein beschritten und sich jene mit Gewalt gefügig gemacht, deren Wissen er benötigte, um Rache zu nehmen. Sie hatten ihn aus dem Kreis der Klingen verstoßen. Männer, die er Freunde genannt hatte, die zu ihm aufgesehen hatten, hatten ihn gejagt wie einen tollwütigen Hund. Ihn über den Rand der RánAnór gehetzt und seinen zerschmetterten Körper einfach zum Sterben liegen lassen. Selbst NurJesh, sein Seelengefährte, hatte sich von ihm abgewandt. Um ihn an die DúnAnór zu verraten! Um ihnen zu sagen, dass er ihre Grausamkeit überlebt hatte. Seine Fingernägel kratzten über den Stein der Janansteinbrüstung. Er hatte ihn getötet, hatte auch diese Pein ertragen, diese Leere, und war trotz der Schwäche seines zerstörten, sterbenden Körpers auf die andere Seite des Schleiers gegangen, um die Mächte zu beschwören, die ihm sein Liebstes wiedergeben konnten.
Er blinzelte ein paar Mal gegen das Licht des Vollmonds an, als ein Funke tief in seinem Inneren sich zu erinnern versuchte. Aber unter diesen Mächten hatte sich etwas
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