Seelenlos
ausstehen, ihn so zu sehen. Der King of Rock ’n’ Roll sollte niemals weinen.
In der Nase bohren sollte er eigentlich auch nicht, und doch tut er das gelegentlich. Damit will er mich bestimmt nur auf die Schippe nehmen. Ein Geist hat kein Bedürfnis, sich in der Nase zu bohren. Manchmal tut Elvis sogar so, als würde er ein Bröckchen Rotz finden und mir zuschnippen. Dann grinst er verschmitzt.
In letzter Zeit ist er meistens gut aufgelegt, aber es kommt auch zu plötzlichen Stimmungswechseln.
Da er seit siebenundzwanzig Jahren tot ist und nichts mehr auf dieser Welt zu schaffen hat, aber dennoch nicht in der Lage ist weiterzuziehen, ist er so einsam, wie es nur die zögerlichen Toten sein können, und er hat gute Gründe, sich in Melancholie zu suhlen. Momentan schien es sich bei der Ursache seines Kummers jedoch um die Salz- und Pfefferstreuer auf dem Tisch zu handeln.
Es waren zwei 1962 hergestellte Elvis-Figuren aus Keramik, jeweils zehn Zentimeter hoch, die ich von Terri, die zu den größten Presley-Fans aller Zeiten zählt, geschenkt bekommen hatte. Der weiß gekleidete Elvis spendete Salz aus seiner Gitarre, der Elvis in Schwarz Pfeffer aus seiner Schmalzlocke.
Elvis sah mich an, deutete erst auf den Salzstreuer, dann auf den Pfefferstreuer und schließlich auf sich selbst.
»Was ist denn los?«, fragte ich, obwohl ich wusste, dass er nicht antworten würde.
Mit unendlich kläglicher Miene wandte er das Gesicht zur Decke, als wäre dort der Himmel gewesen, und schluchzte lautlos vor sich hin.
Salz- und Pfefferstreuer standen bereits seit Weihnachten auf dem Tisch. Bisher hatten sie ihn offenkundig amüsiert.
Seine Verzweiflung war kaum durch die lange verzögerte Erkenntnis zu erklären, dass sein Abbild dazu missbraucht worden war, billige, kitschige Souvenirs zu verkaufen. Unter den Hunderten, wenn nicht gar Tausenden von Elvis-Objekten, die man im Lauf der Jahre auf den Markt geworfen hatte, waren viele wesentlich schäbiger als die beiden Keramikteile. Außerdem hatte er zu Lebzeiten nichts dagegen gehabt, die Genehmigung zur Produktion solcher Sachen zu erteilen.
Tränen strömten ihm an den Wangen herab und tropften von Kiefer und Kinn, verschwanden jedoch mitten in der Luft, bevor sie auf dem Tisch aufkamen.
Da ich Elvis nicht trösten, ja noch nicht einmal verstehen konnte, griff ich zum Telefon und wählte die Nummer des Grills, wo gerade Hochbetrieb herrschte. Es war Frühstückszeit.
Kaum hatte ich mich für das schlechte Timing entschuldigt, als Terri auch schon fragte: »Hast du von der Sache mit den Jessups gehört?«
»Ich war dort«, sagte ich.
»Dann steckst du also drin?«
»Bis zum Hals. Hör mal, ich muss dich sprechen.«
»Dann komm doch her.«
»Nicht im Grill, sonst will die ganze Mannschaft mit mir quatschen. Grundsätzlich hab ich da zwar nichts dagegen, aber ich bin in Eile.«
»Dann oben«, sagte sie.
»Bin schon unterwegs.«
Während ich den Hörer auflegte, gestikulierte Elvis, um mich auf sich aufmerksam zu machen. Wieder deutete er auf Salz-und Pfefferstreuer, dann bildete er mit Zeige- und Mittelfinger der rechten Hand ein »V«, blinzelte mit seinen tränennassen Augen und sah mich erwartungsvoll an.
Das schien ein Kommunikationsversuch zu sein, wie ich ihn noch nie erlebt hatte.
»Victory?«, nannte ich die gewöhnliche Bedeutung des Zeichens.
Elvis schüttelte den Kopf und streckte mir die beiden Finger entgegen, als sollte ich meine Interpretation dringend überdenken.
»Zwei?«, fragte ich.
Er nickte heftig. Dann zeigte er wieder auf den Salz- und den Pfefferstreuer und hob wieder die beiden Finger.
»Zwei Elvisse«, sagte ich.
Auf diese Bemerkung hin brach er regelrecht zusammen. Er krümmte den Rücken, ließ den Kopf hängen und schlug zitternd die Hände vors Gesicht.
Ich legte ihm die rechte Hand auf die Schulter. Er fühlte sich so körperhaft an, wie jeder Geist es tut.
»Tut mir leid, Sir. Ich weiß nicht, was Sie quält und was ich tun könnte.«
Offenbar hatte er mir nichts mehr mitzuteilen, weder durch sein Mienenspiel noch durch irgendwelche Gesten. Er hatte sich ganz in seinen Gram zurückgezogen, und vorläufig war er für mich ebenso verloren, wie er es für die übrige Welt der Lebenden immer war.
Obwohl ich bedauerte, ihn in diesem trostlosen Zustand zurückzulassen, wusste ich, dass ich den Lebenden mehr verpflichtet war als den Toten.
14
Terri Stambaugh hat den Pico Mundo Grill gemeinsam mit ihrem Mann Kelsey
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