Seelenlos
mir unnötig kompliziert vor.
Wieder knipste ich die Taschenlampe aus. Wieder schwang die Tür geräuschlos auf.
In vollkommener Dunkelheit lauschte ich und hörte ein leises, seidiges Geräusch. Sofort beschwor meine Fantasie das Bild einer gewaltigen Schlange herauf, die durch die Finsternis glitt.
Dann erkannte ich das Flüstern sanft fließenden Wassers, das sich ungehindert an den glatten Wänden eines Kanals entlangbewegte.
Ich schaltete die Taschenlampe ein und trat über die Schwelle. Vor mir lag ein betonierter Steg, gut einen halben Meter breit, der sich sowohl nach links wie nach rechts unendlich fortzusetzen schien.
Ein Stück unterhalb des Stegs floss graues Wasser dahin, nicht rauschend und strudelnd, sondern ganz gemächlich. Seine Farbe erhielt es wahrscheinlich von den Betonwänden des Kanals. Der Strahl der Taschenlampe malte feine silberne Muster auf die sanft wogende Oberfläche.
Der Biegung der Wände nach zu urteilen, war das Wasser in der Mitte der Rinne höchstens einen halben Meter tief. Direkt neben dem Steg waren es wohl kaum dreißig Zentimeter.
Der Durchmesser des gesamten Tunnels betrug etwa dreieinhalb Meter. War er voll, so stellte er eine mächtige Arterie im Boden der Wüste dar, die auf ein weit entferntes dunkles Herz zuführte.
Bislang hatte ich darauf verzichtet, die Beleuchtung einzuschalten, damit Simon nicht gewarnt wurde. Mit einer Taschenlampe bot ich jedoch für jeden, der in der Dunkelheit auf mich lauerte, ein ideales Ziel.
Ich entschied mich für die einzige logische Alternative dazu, mich im Finstern an der Wand entlangzutasten, und trat wieder durch die Tür. Auf der anderen Seite fand ich zwei Schalter. Schon als ich den ersten betätigte, flammte das Licht im Tunnel auf.
Als ich wieder auf dem Steg stand, sah ich, dass in die Decke des Tunnels in einem Abstand von etwa zehn Metern Lampen eingelassen waren. Sie waren durch Drahtgitterglas geschützt. Taghell ließen sie es hier unten nicht gerade werden. Fledermausflügel
aus Schatten huschten an den Wänden entlang, aber man sah dennoch gut genug.
Obgleich hier Regen gesammelt wurde und kein Abwasser, hatte ich einen fauligen Geruch, wenn nicht gar einen üblen Gestank erwartet. Feucht roch die kühle Luft durchaus, aber nicht widerwärtig. Im Gegenteil, sie hatte den fast angenehmen Kalkduft an sich, den man oft in Betonbauten findet.
Ganz klar: Die meiste Zeit des Jahres enthielten die Rinnen keinerlei Wasser. Sie trockneten aus, weshalb sich kein Schimmel halten konnte.
Eine Weile betrachtete ich das fließende Wasser. Seit fünf Tagen hatte es nicht mehr geregnet. Der letzte Rest des von den Hügeln im östlichen Teil des County stammenden Abflusses konnte das also nicht sein; so langsam trocknete die Wüste nicht aus.
Vielleicht waren die Wolken, die ich von Terris Treppe aus am nordöstlichen Himmel gesehen hatte, die Ausläufer eines weit entfernten Sturmtiefs, das sich hier schon bemerkbar machte.
Falls ihr euch gefragt haben solltet, weshalb eine wüstenhafte Region ein derart komplexes Regenkanalisationssystem benötigt: die Antwort hat zwei Teile. Zum einen geht es um Klima und Bodenbeschaffenheit, zum anderen um Machtpolitik.
Es regnet zwar nur wenig in Maravilla County, aber wenn es doch einmal losgeht, dann handelt es sich häufig um einen gewaltigen Wolkenbruch. Große Teile der Wüste bestehen weniger aus Sand als aus Schiefer, und den gibt es wiederum weniger als blanken Fels. Erdreich und Vegetation, die Niederschläge aufnehmen und den Abfluss verzögern könnten, gibt es nur wenig.
Plötzliche Überschwemmungen können das tiefer liegende Gelände in ein riesiges Seengebiet verwandeln. Würde man den
Niederschlag von Unwettern also nicht ableiten, so wäre ein beträchtlicher Teil von Pico Mundo in Gefahr, dasselbe Schicksal zu erleiden.
Manchmal vergeht ein ganzes Jahr ohne einen katastrophalen Wolkenbruch, bei dem wir nervös an Noah denken, und dann haben wir im folgenden Jahr gleich fünf davon.
Dennoch besteht die Regenkanalisation in Wüstenorten normalerweise lediglich aus einem Netz von v-förmigen Betonkanälen, von der Witterung geschaffenen Erosionsrinnen und Gräben, die entweder in ein trockenes Flussbett münden oder so angelegt sind, dass sie das Wasser von den besiedelten Flächen wegleiten. Befände sich gleich neben Pico Mundo nicht ein großer Luftwaffenstützpunkt namens Fort Kraken, hätten wir ebenfalls ein derart einfaches und unvollkommenes
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