Seelenlos
also vorläufig – und wahrscheinlich noch eine ganze Weile – ziemlich träge dahin und stellte keine Gefahr dar.
Ich nahm meinen Rucksack ab und legte ihn auf den Steg. Dann trat ich in die Rinne und watete auf den Pfosten zu. So träge die Strömung aussah, sie war nicht ohne Kraft.
Um mich nicht mitten im Kanal aufzuhalten und das Schicksal herauszufordern, versuchte ich nicht sofort, die Leiche umzudrehen, um ihr Gesicht zu betrachten. Stattdessen packte ich sie am Hemd und zog sie zum Steg.
So vertraut ich auch mit den Geistern der Toten bin, beim Anblick von Leichen gruselt es mir doch. Sie kommen mir vor wie leere Gefäße, in die sich ein neues, bösartiges Wesen einnisten könnte.
Tatsächlich erlebt habe ich das zwar noch nie, allerdings ist in einem gewissen Supermarkt unserer Stadt ein Typ beschäftigt, bei dem ich mir so meine Gedanken mache.
Auf dem Steg angekommen, drehte ich den im Wasser liegenden Körper auf den Rücken. Es war der schlangenhafte Kerl, der mir einen Elektroschock verpasst hatte.
Nicht Danny. Unwillkürlich stieß ich einen erleichterten Seufzer aus.
Fast im selben Augenblick zog sich alles in mir zusammen. Mir schauderte. Das Gesicht des Toten war anders als die Gesichter aller anderen Leichen, die ich gesehen hatte.
Die Augen waren so weit nach oben gerollt, dass nicht einmal der Rand der Pupillen zu erkennen war. Außerdem schienen die Augäpfel herauszuquellen, als würde ein Druck im Schädel sie aus den Höhlen pressen, und das, obwohl der Mann erst höchstens ein paar Stunden tot sein konnte.
Wäre das Gesicht blutleer und weiß gewesen, dann hätte mich das nicht überrascht. Wäre die Haut blassgrün gewesen, wie sie es innerhalb eines Tages wird, so hätte ich mich gefragt, was den Verwesungsvorgang beschleunigt hatte. Erschrocken wäre ich jedoch nicht.
Stattdessen war die Haut weder blutleer noch blassgrün, ja nicht einmal bläulich, sondern wies verschiedene Grauschattierungen auf. Es waren Flecken, deren Spektrum von der Farbe fahler Asche bis zum dunklen Grau von Holzkohle reichte. Zudem sah das Gesicht regelrecht hohl aus, als wäre das Leben ein Saft, den man herausgesogen hatte.
Der Mund stand auf. Die Zunge war verschwunden. Ich hatte nicht den Eindruck, dass jemand sie herausgeschnitten hatte. Offenbar hatte der Tote sie verschluckt. Aggressiv.
Der Kopf wies keine offensichtlichen Verletzungen auf. Obwohl ich neugierig auf die Todesursache war, verzichtete ich lieber darauf, den Mann auszuziehen, um ihn nach Wunden abzusuchen.
Ich drehte ihn allerdings wieder auf den Bauch, um in den Gesäßtaschen nach einer Geldbörse zu suchen. Die Taschen waren leer.
Wenn dieser Mann nicht durch einen Unfall gestorben, sondern umgebracht worden war, dann ganz bestimmt nicht von Danny Jessup. Damit blieb eigentlich nur die Möglichkeit, dass einer seiner Komplizen ihn auf dem Gewissen hatte.
Nachdem ich den Rucksack wieder geschultert hatte, setzte ich meinen Weg in der bisherigen Richtung fort. Mehrere Male sah ich mich um, als könnte der Tote sich aus dem Wasser erheben, aber das tat er nicht.
17
Irgendwann bog ich in südöstlicher Richtung in einen anderen Tunnel ein. Hier war es dunkel.
Von der Kreuzung her fiel genügend Licht ein, um an der Wand einen Schalter aus Metall erkennen zu können. Er war in einer Höhe von knapp zwei Metern angebracht. Offenbar hatten die Planer des Systems nicht erwartet, dass das Wasser auch nur annähernd so hoch stieg. Das Volumen der Kanäle war also tatsächlich wesentlich größer, als es selbst das schlimmstmögliche Unwetter erfordert hätte.
Ich legte den Schalter um. In dem vor mir liegenden Tunnel wurde es hell, in seinen Abzweigungen vielleicht ebenfalls.
Weil ich nun nach Südosten ging, während das Unwetter offenbar eher von Norden her nahte, führte der Kanal keinerlei Wasser. Seit dem letzten Regen war der Beton der Rinne fast vollständig getrocknet. Es fand sich nur eine dünne Sedimentschicht darin, in der verstreut kleine Gegenstände lagen, die von der letzten Flut übrig geblieben waren.
Ich hielt Ausschau nach Fußabdrücken, sah jedoch keinen einzigen. Falls Danny und seine Kidnapper hier durchgekommen waren, dann waren sie wie ich auf dem erhöhten Steg geblieben.
Mein sechster Sinn drängte mich vorwärts. Während ich etwas schneller weiterging als bisher, kam mir ein neuer Gedanke.
Auf den Straßen von Pico Mundo befanden sich Gullys. Ihre schweren Gusseisendeckel mussten mit einem
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