Seelenlos
System.
Sechs Jahrzehnte lang hat Fort Kraken zu den wichtigsten militärischen Einrichtungen des Landes gehört. Das Kanalisationssystem, von dem Pico Mundo profitiert, wurde in erster Linie geschaffen, um dafür zu sorgen, dass die Startbahnen und die Infrastruktur des Stützpunkts vor der schlechten Laune von Mutter Natur geschützt sind.
Manche Leute glauben, unterhalb von Kraken befinde sich tief im Fels eine Kommandozentrale, die dazu gedacht war, einen Nuklearschlag durch die frühere Sowjetunion zu überstehen und als Verwaltungszentrum für den Wiederaufbau der südwestlichen US-Staaten nach einem Atomkrieg zu dienen.
Nach dem Ende des Kalten Kriegs wurde Fort Kraken zwar verkleinert, aber im Gegensatz zu vielen anderen Militärstützpunkten nicht aufgelöst. Manche behaupten, die abgelegene Basis werde in Bereitschaft gehalten, weil wir es möglicherweise eines Tages mit einem aggressiven, mit Tausenden von Atomraketen bewaffneten China zu tun bekämen.
Außerdem gibt es Gerüchte, die Tunnels dienten nicht nur dem Regenablauf, sondern auch irgendwelchen geheimen Funktionen. Zum Beispiel könnten sie das Belüftungssystem des unterirdischen Komplexes tarnen oder zumindest teilweise als verborgene Eingänge fungieren.
Dies alles könnte stimmen, es könnte aber genauso gut eine Legende sein wie die Behauptung, in den Abwasserkanälen von New York lebten Alligatoren, die als unerwünschte Nachkommen von Haustieren die Toilette hinuntergespült worden seien. Dort unten ernährten sie sich von Ratten und unvorsichtigen Kanalarbeitern.
Zu den Leuten, die den Kraken-Mythos ganz oder teilweise glauben, gehört Horton Barks, der Herausgeber der Maravilla County Times . Außerdem behauptet Mr. Barks, vor zwanzig Jahren sei er beim Wandern in den Wäldern von Oregon auf Bigfoot getroffen und habe ihn zu einem Imbiss aus Studentenfutter und einer Dose Würstchen eingeladen.
Angesichts meiner Fähigkeiten und Erlebnisse neige ich dazu, ihm diese Story tatsächlich zu glauben.
Nun vertraute ich auf der Suche nach Danny Jessup wieder einmal meiner seltsamen Intuition. Ich wandte mich nach rechts und folgte dem Steg stromaufwärts, durch geordnete Muster aus Schatten und Licht, auf ein Unwetter dieser oder jener Art zu.
16
Ein auf und ab schaukelnder Tennisball, eine Plastiktüte, die pulsierte wie eine Qualle, eine Spielkarte (die Karo Zehn), ein Gartenhandschuh, ein Büschel roter Blüten, vielleicht von einem Alpenveilchen – jeder Gegenstand auf der grauen Flut strahlte eine geheimnisvolle Bedeutung aus. Jedenfalls kam es mir so vor, denn ich war in eine Stimmung verfallen, in der ich mich nach Bedeutung sehnte.
Weil das Wasser nicht von Pico Mundo aus ins Kanalsystem gelangte, sondern von einem weit im Nordosten tobenden Unwetter stammte, trug es nur wenig Treibgut mit sich. Später, wenn der Regen die Straßen der Stadt wusch, würde sich das ändern.
Von den Seiten her mündeten weitere Kanäle in den ein, durch den ich ging. Teils waren sie trocken, teils führten sie Wasser. Viele hatten nur einen Durchmesser von gut einem halben Meter, manche waren jedoch so groß wie meiner.
Bei jeder Einmündung brach der Steg ab, um auf der anderen Seite von Neuem zu beginnen. Zuerst überlegte ich, ob ich die Schuhe ausziehen und die Jeans hochkrempeln sollte. Ich entschied mich jedoch dagegen, weil ich barfuß womöglich auf etwas Scharfes getreten wäre.
Schon nach der ersten Durchquerung waren meine neuen weißen Turnschuhe völlig ruiniert. Sie sahen aus, als hätte Terrible Chester draufgepinkelt.
Während ich immer weiter nach Nordosten vordrang, ohne recht wahrzunehmen, dass es ganz allmählich aufwärtsging, kam die unterirdische Struktur mir immer eindrucksvoller vor. Die anfängliche Neugier, etwas Unbekanntes zu erforschen, verwandelte sich in Bewunderung für die Architekten, Ingenieure und Arbeiter, die dieses Projekt geplant und ausgeführt hatten.
Aus der Bewunderung wurde schließlich fast ein Staunen.
Der Komplex aus Tunnels hatte gewaltige Ausmaße. In manchen der Röhren, die groß genug waren, um hindurchgehen zu können, brannten Lampen, andere waren dunkel. Die erleuchteten Tunnels schrumpften in der Ferne immer weiter zusammen, als führten sie in die Unendlichkeit, oder sie entzogen sich mit einer sanften Biegung dem Blick.
Ein Ende sah ich nirgendwo, nur Öffnungen zu neuen Armen. Meine Fantasie flüsterte mir ein, ich sei in eine Konstruktion gelangt, die zwischen zwei Welten
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