Seelenlos
mir auferlegt, bestimmt nicht befreien.
Die Tatsache, dass ich mich hier überhaupt nicht auskannte, ließ das von Erdbeben und Feuer verwüstete Gebäude zu einer künstlichen Wildnis werden. Durch den Einsturz von Trennwänden waren Flure und Zimmer nicht immer klar erkennbar. Ein Labyrinth aus Durchgängen und Räumen war entstanden, das teils trostlos und kahl, teils chaotisch und bedrohlich aussah. Der Kegel meiner Taschenlampe erfasste es immer nur partiell.
Auf einem Weg, den ich in der Gegenrichtung nicht wiedergefunden hätte, geriet ich in das ausgebrannte Kasino.
In Kasinos gibt es weder Fenster noch Wanduhren. Ihre Betreiber wollen die Spieler vergessen lassen, wie die Zeit vergeht,
damit diese immer nur noch ein einziges Mal ihren Einsatz auf den Tisch legen – und dann noch einmal. Der höhlenartige Raum war größer als ein Sportplatz und so lang, dass mein Licht nicht bis zum anderen Ende reichte.
Eine Ecke des Kasinos war teilweise eingestürzt. Abgesehen davon war die imposante Konstruktion intakt.
Hunderte zerstörter Spielautomaten lagen wild durcheinander auf dem Boden. Andere standen in langen Reihen wie vor dem Erdbeben da, halb geschmolzen, aber in Habachtstellung wie Kriegsmaschinen oder Robotersoldaten, die auf dem Marsch erstarrt waren, als feindliche Strahlen ihre Schaltkreise zerstört hatten.
Die meisten Spieltische waren zu verkohlten Trümmern zerfallen. Ein paar angesengte Würfeltische waren übrig, bedeckt mit schwarzen Gipsbrocken, die von der Decke gefallen waren.
Auch zwei sehr in Mitleidenschaft gezogene Blackjack-Tische standen noch mitten im Chaos. An einem warteten zwei Hocker, als hätten der Teufel und seine Braut beim Ausbruch des Feuers Karten gespielt und den Flammen um sich herum Einhalt geboten, weil sie nicht gestört werden wollten.
Statt des Teufels thronte ein nett aussehender Mann mit schütterem Haar auf einem der Hocker. Er hatte im Dunkeln dagesessen, bis meine Taschenlampe ihn fand. Seine Arme ruhten auf dem gepolsterten Rand des halbmondförmigen Tischs, als wartete er darauf, dass der Dealer die Karten mischte.
Das war nicht gerade der Typ Mann, der sich als Komplize eines Mordes und einer Entführung eignete. Er war etwa fünfzig Jahre alt und hatte ein bleiches Gesicht mit einem vollen Mund und Grübchen am Kinn. Alles in allem sah er aus wie ein Bibliothekar oder ein Kleinstadtapotheker.
Während ich auf ihn zuging und er den Kopf hob, war ich mir seines Status nicht ganz sicher. Dass er ein Geist war, wusste ich erst, als er überrascht war, weil ich ihn sehen konnte.
Am Tag der Katastrophe war er vielleicht von fallenden Trümmern erschlagen worden. Oder bei lebendigem Leib verbrannt.
Er verzichtete darauf, mir den Zustand seiner Leiche zum Zeitpunkt des Todes zu zeigen, eine höfliche Regung, für die ich dankbar war.
Aus den Augenwinkeln sah ich Bewegungen im Schatten. Aus der Dunkelheit kamen die zaudernden Toten.
24
In den Lichtkegel vor mir trat eine hübsche junge Blondine in einem blau-gelben Cocktailkleid mit anzüglichem Dekolleté. Sie lächelte, doch das Lächeln verschwand gleich wieder.
Von rechts kam eine alte Frau mit langem Gesicht und hoffnungsleeren Augen. Sie streckte die Hand nach mir aus, dann blickte sie finster darauf, zog sie zurück und senkte den Kopf, als würde sie aus irgendeinem Grund denken, dass ich sie abstoßend fand.
Zu meiner Linken erschien ein untersetzter, rothaariger, fröhlich aussehender Mann, dessen gequälter Blick das amüsierte Lächeln Lügen strafte.
Ich drehte mich um und sah im Licht der Taschenlampe weitere Gestalten. Eine Cocktailkellnerin in ihrer Uniform im Stil einer indianischen Prinzessin. Einen Wachmann mit der Pistole an der Hüfte.
Ein junger, äußerst modisch gekleideter Schwarzer fummelte unaufhörlich an seinem Seidenhemd, seinem Jackett und dem Jadeanhänger um seinen Hals, als wäre es ihm im Tode peinlich, im Leben so auf Äußerlichkeiten bedacht gewesen zu sein.
Den Spieler am Blackjack-Tisch eingeschlossen, erschienen insgesamt sieben Gestalten. Ich konnte nicht erkennen, ob sie alle im Kasino zu Tode gekommen waren oder irgendwo im Hotel. Vielleicht waren es die einzigen Geister, die hier spukten, vielleicht auch nicht.
Einhundertzweiundachtzig Menschen waren bei dem Unglück ums Leben gekommen. Die meisten waren höchstwahrscheinlich gleich im Augenblick ihres Todes weitergezogen. Zumindest hoffte ich um meinetwillen, dass dem so war.
Im Allgemeinen
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