Seelenlos
entfernt worden. Verblieben waren nur noch zwei Nachttische, ein runder Holztisch und vier breite, hölzerne Lehnstühle.
Geputzt hatte man auch ein wenig. Sauber zu nennen war das Zimmer zwar noch lange nicht, doch es war wohnlicher als alle anderen Räume des ruinierten Hotels, in die ich hineingeschaut hatte.
Das nahende Unwetter hatte den Tag verdunkelt, doch dicke Kerzen in roten und bernsteinfarbenen Glasbehältern sorgten für Licht. Jeweils sechs waren in jeder Ecke des Zimmers säuberlich auf dem Boden angeordnet, sechs weitere standen auf dem Tisch.
Unter anderen Umständen hätte das flackernde Kerzenlicht gute Laune verbreiten können. Hier kam es mir freudlos vor. Bedrohlich. Okkult.
Die Kerzen verströmten einen Duft, der den bitteren Gestank des vor Jahren in alle Winkel vorgedrungenen Rauchs überdeckte. Die Luft roch eher süß als blumig. So etwas hatte ich noch nie eingeatmet.
Über das Polster der Stühle waren weiße Laken gebreitet. Man war also auf Reinlichkeit bedacht.
Die zwei Nachttische flankierten das große Fenster. Auf jedem stand eine große schwarze Vase mit zwei oder drei Dutzend
roten Rosen, die entweder keinen Duft hatten oder nicht gegen die Kerzen ankamen.
Datura genoss Drama und Glamour, und sie brachte ihren schrägen Komfort sogar in die Wildnis mit. Mir kam das Bild einer europäischen Prinzessin in den Sinn, die zur Kolonialzeit Afrika besuchte und zum Picknick in der Savanne einen Perserteppich ausbreiten ließ.
In einer engen schwarzen Torerohose und einer schwarzen Bluse stand sie am Fenster und blickte hinaus. Nicht mehr als einen Meter siebzig groß. Ihr dichtes, glänzend blondes Haar war so hell, dass es fast weiß aussah. Es war kurz geschnitten, aber nicht in männlichem Stil.
»Ich hab es schon drei Stunden vor Sonnenuntergang geschafft«, sagte ich, als ich eintrat.
Sie zuckte weder überrascht zusammen, noch drehte sie sich zu mir um. Ohne den Blick von den sich zusammenbrauenden Wolken abzuwenden, sagte sie: »Dann hast du mich wenigstens nicht komplett enttäuscht.«
Aus der Nähe war ihre Stimme nicht weniger verführerisch und erotisch als am Telefon.
»Odd Thomas, weißt du, wer in der Geschichte der Magie einsam an der Spitze steht? Wer geschickter darin war, Geister zu beschwören und sie sich zunutze zu machen, als alle anderen?«
»Ich dachte, das wärst du?«, riet ich jovial drauflos.
»Moses«, sagte sie. »Er kannte die geheimen Namen Gottes, mit denen er den Pharao besiegen und das Meer teilen konnte.«
»Moses, der Beschwörer. Da haben sie dir im Religionsunterricht aber recht merkwürdige Dinge beigebracht.«
»Rote Kerzen in roten Gläsern«, sagte sie.
»Sieht hübsch aus«, gab ich zu.
»Was bewirken die – rote Kerzen in roten Gläsern?«
»Licht?«, fragte ich.
»Sieg«, berichtigte sie mich. »Gelbe Kerzen in gelben Gläsern – was bewirken die?«
»Diesmal muss die Antwort aber stimmen. Licht?«
»Geld.«
Indem sie mir hartnäckig den Rücken zuwandte, wollte sie mich offenbar durch die Kraft ihrer mysteriösen Aura und ihres Willens zum Fenster ziehen.
Entschlossen, auf das Spiel nicht einzugehen, sagte ich: »Sieg und Geld. Tja, das ist eben mein Problem. Ich stecke immer weiße Kerzen an.«
»Weiße Kerzen in durchsichtigen Gläsern bewirken Frieden«, sagte sie. »Die verwende ich nie.«
Obwohl ich nicht die Absicht hatte, mich ihrem Willen zu beugen und zu ihr ans Fenster zu treten, bewegte ich mich auf den Tisch zu, der zwischen uns stand. Auf ihm befanden sich neben den Kerzen noch einige andere Gegenstände, von denen einer wie eine Fernbedienung aussah.
»Bevor ich schlafen gehe, streue ich immer eine Prise Salz zwischen Matratze und Laken«, fuhr sie fort, »und über meinem Bett hängt ein Büschel Fingerkraut.«
»Ach, das hilft? Ich schlafe in letzter Zeit nämlich nicht besonders gut, aber so ist es wohl, wenn man allmählich alt wird.«
Endlich wandte sie sich vom Fenster ab und sah mich an.
Betörend. Im Volksglauben gibt es den Sukkubus, einen Dämon in berückender weiblicher Gestalt, der sich mit Männern paart, um deren Seele zu rauben. Daturas Gesicht und Figur wären ideal zu diesem Zweck gewesen.
Sie war überzeugt davon, dass ihr Anblick Männer bannen konnte, das drückten ihre Körperhaltung und ihr Auftreten deutlich aus.
Ich konnte sie bewundern, wie ich eine vollkommen proportionierte Bronzestatue bewundern kann, egal, welches Motiv
diese darstellt – eine Frau, einen Wolf
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