Seelenmoerder
aus ihrer Schublade zu holen, und reichte ihn ihm. »Vielleicht heitert dich das ja auf. Ich habe mich bei der PR-Abteilung von Ketrum als eifrige junge Reporterin ausgegeben und dir eine Liste ihrer Labor-und Firmenstandorte besorgt. Das Labor, in dem die Versuche mit TTX stattfinden, ist auch dabei.«
Erfreut klappte Ryne den Ordner auf und überflog die entsprechende Seite. »Gute Arbeit.«
»Die PR-Frau, mit der ich gesprochen habe, hat sich ziemlich bedeckt gehalten, als ich sie auf die Versuchsreihen angesprochen habe, aber als ich noch ein bisschen im Internet herumgesucht habe, bin ich darauf gestoßen, dass die klinischen Tests, die sie mit TTX machen, im neuesten Ketrum-Labor in Shelton, Montana stattfinden. Und …« Sie machte eine Kunstpause. »Das wird dir gefallen – ich habe Ketrum auf der Kundenliste von Reston gesucht.«
»Und sie stehen drauf?«
Abbie nickte. »Ich habe es extra noch einmal mit ihrer Hauptniederlassung abgeklärt und dort erfahren, dass sie in den letzten fünf Jahren ausschließlich Reston-Spritzen verwendet haben.«
Der Adrenalinstoß machte sich durch ein Pochen in seinem Brustkorb bemerkbar. Endlich hatten sie etwas in der Hand, das spürte er. »Dann war dein Tag ja wesentlich produktiver als meiner.« Er brauchte die Namen der Leute, die bei Ketrum an den klinischen Testreihen arbeiteten, damit er sie allesamt überprüfen konnte. Aber wie …
»U-u-u-und … jetzt bist du schon wieder ganz woanders.« Abbie lächelte ihn nachsichtig an. »Es gibt jede Menge neuer Entwicklungen. Möchtest du vielleicht beim Abendessen mit mir besprechen, wie wir weiter verfahren wollen?«
Er war in Versuchung, und die Macht dieser Versuchung war nahezu überwältigend. Nichts wäre ihm lieber gewesen, als mit Abbie nach Hause zu fahren und beim Essen Ideen mit ihr auszutauschen, ehe sie schließlich einem anderen Appetit nachgaben, der nie lange auf sich warten ließ, wenn sie zusammen waren.
Er schüttelte bedauernd den Kopf. »Ich stecke bis über beide Ohren in Papierkram. Außerdem muss ich mir alles noch mal durch den Kopf gehen lassen, damit ich morgen
früh bei der Einsatzbesprechung neue Aufgaben verteilen kann. Das dauert.«
»Verstehe.« Sie gab sich ein bisschen zu schnell geschlagen, wandte sich um und griff nach dem ViCAP-Ordner. »Den nehme ich mit und arbeite ihn durch, sobald ich Karen Larsens Angaben ins Opferraster eingetragen habe. Wir können unsere Ergebnisse ja morgen vergleichen.«
Er musterte sie, doch sie wich seinem Blick aus. Widerwillig musste er sich eingestehen, dass er vermutlich nichts zustande brachte, wenn sie direkt neben ihm saß. Seine Konzentrationsfähigkeit hatte unter den Ereignissen des Tages ohnehin schon massiv gelitten.
»Abbie.« Er wartete, bis sie ihn endlich ansah. Ihr Lächeln wirkte ein bisschen aufgesetzt. »Ich brauche noch eine ganze Weile. Aber ich würde hinterher gern zu dir kommen. Wenn es dir recht ist.«
Ihr Lächeln wurde breiter und bewies echte Freude. »Das wäre schön«, sagte sie nur. Doch gepaart mit ihrer Miene war das mehr als genug.
Abbies Handy klingelte, als sie über den Polizeiparkplatz zu ihrem Auto ging. Beim Blick aufs Display wurde ihr mulmig, doch weil sie wegen ihrer mangelnden Loyalität das schlechte Gewissen plagte, meldete sie sich fröhlicher, als ihr zumute war. »Callie. Schön, dass du anrufst. Du bist schwer zu erreichen.«
Sie hatte ihre Schwester seit dem gemeinsamen Abendessen nicht mehr gesprochen, jedoch mehrmals erfolglos bei ihr angerufen.
»Mir ist langweilig«, sagte Callie. »Wie wär’s, wenn ich was vom Chinesen hole und bei dir vorbeikomme?«
An ihrem Auto angelangt, schloss Abbie die Fahrertür auf und rutschte hinein, ehe sie die Akten, die sie noch bearbeiten
wollte, neben sich auf den Beifahrersitz legte. »Klingt gut«, sagte sie mit unechter Begeisterung. »Aber ich könnte dich auch abholen, wenn du magst.« Hinter dem Angebot steckte mehr als simple Neugier. Daraus, wo Callie momentan wohnte, könnte sie vielleicht wertvolle Rückschlüsse auf ihren emotionalen Zustand ziehen. Callies manische Phasen gingen mit teuren Extravaganzen und Einkaufsorgien einher, während sie in depressiven Phasen in miesen Hotels mit fragwürdigen Bewohnern abzusteigen pflegte.
Doch die Gelegenheit ergab sich nicht. »Dann in zwanzig Minuten bei dir«, sagte Callie nur.
Als sie vom Parkplatz fuhr, war Abbie froh, dass Ryne noch stundenlang zu tun hatte. Sie war nicht
Weitere Kostenlose Bücher