Seelenmoerder
heraus. Doch sie konnte den Blick nicht von der Klinge abwenden. Konnte die Erinnerungen nicht verdrängen, die sie hervorrief.
»Ich habe mich dir immer am nächsten gefühlt, wenn du hinten in deinem Zimmer geblutet hast. Du hast es auch gespürt, stimmt’s?« Callie nahm die Klinge aus der Verpackung und hielt sie ihr hin. »Ich weiß, dass du es auch gespürt hast. Vermisst du den Schmerz nie, Abbie? Bist du nie in Versuchung, wieder zur Klinge zu greifen, nur um das Blut zu sehen?«
»Nein.« Abbie wandte den Blick von der Klinge ab und musterte ihre Schwester gelassen. Callie brauchte jetzt etwas Beruhigendes, sie brauchte jemanden, der Vernunft ausstrahlte.
Sie durfte nicht erfahren, dass allein der Anblick der Klinge die alten Narben wieder jucken ließ, die Erinnerung an den ersten Schnitt zurückbrachte, an das Brennen, auf das eine merkwürdige Taubheit folgte. Und dann heftiger Schmerz. Schmerz, wie ihre Schwester ihn empfunden hatte, nur wenige Meter von ihr entfernt.
»Nimm sie.«
Als Callie ihr die Klinge in die Hand zu drücken versuchte, wich sie zurück. »Wir müssen dir hier in Savannah einen Therapeuten besorgen, Callie. Jemanden, der dir deine Medikamente verschreiben kann. Ich werde dich begleiten. Ich bleibe bei dir.«
Doch Callie war nicht umzustimmen. »Ich brauche keine Therapie. Ich brauche das hier. Und du brauchst es auch. Nimm sie. Nur einen Schnitt. Spür es noch mal, Abbie. Spürst du es?«
»Callie, wir können doch …«
»Ich habe gesagt, spür es!«, kreischte Callie und fuhr mit der Hand schnell über Abbies Arm, direkt oberhalb des Ellbogens.
Und dann starrte sie mit vor Entsetzen geweiteten Augen auf Abbies zerschnittenen Ärmel, aus dem das Blut quoll.
Sofort hatte Abbie ein vertrautes Summen in den Ohren, das schwindelige Gefühl, von allem losgelöst zu sein. Vom Schmerz. Von der Angst. Sowie Luft auf die offene Wunde traf, machte die Taubheit einem Brennen Platz. Einem Brennen, das durch einen zweiten und einen dritten Schnitt in Agonie umschlagen würde.
»Abbie, es tut mir leid. Es tut mir so leid.« Callies Miene wurde weich, sie ließ die Klinge fallen und schlang die Arme um ihre Schwester. »Das habe ich nicht gewollt. Ich wollte dich nicht verletzen. Das weißt du doch, oder?«
»Ist schon gut«, flüsterte Abbie, während sie blind über die Schulter ihrer Schwester starrte. »Es wird schon wieder.« Vorsichtig löste sie sich von Callie und zog den Spalt in ihrem Hemd auseinander, um die Wunde zu betrachten.
Erschrocken registrierte sie, dass der Schnitt nicht einfach mit ein paar Heftpflastern zu verarzten sein würde. »Komm mit, Callie, ich muss das nähen lassen.« Sie streckte den Arm aus, um das Kinn ihrer Schwester anzuheben und ihr in das schuldbewusste Gesicht zu sehen. »Und du brauchst neue Medikamente.«
»Ich fahre dich.« Callie schien sich langsam unter Kontrolle zu bekommen und suchte hektisch nach ihrer Handtasche. »Ich hole nur noch schnell ein Handtuch für deinen Arm.«
Abbie sah zu, wie ihre Schwester umherlief, sich um sie kümmerte, ihr einen feuchten Waschlappen brachte und ihre Schlüssel suchte. Doch als sie endlich zum Gehen bereit waren, rührte sich Abbie nicht vom Fleck. »Ich verlasse das Haus nicht, ehe du mir versprichst, bei Dr. Faulkner anzurufen. Jetzt. Noch heute Abend.«
Ein seltsamer Ausdruck erschien auf Callies Gesicht, und sie durchquerte den Raum, um an Abbies unverletztem Arm zu ziehen. »Das können wir später besprechen. Komm jetzt. Bevor du noch verblutest.«
Das Blut rann bereits über Abbies Finger. Sie spürte, wie es ihren Arm entlanglief und zu Boden tropfte. Doch sie wandte den Blick nicht von ihrer Schwester ab. »Nicht, ehe du es mir versprichst. Du rufst ihn heute Abend an. Ich hole die Medikamente und sehe zu, wie du sie nimmst. Versprich es mir, Callie.«
Callie befeuchtete die Lippen und sah an ihrer Schwester vorbei. Dann schaute sie auf die Hand, die Abbie auf ihre Wunde gepresst hatte und wo das Blut zwischen den Fingern hindurchquoll. Sie schluckte schwer.
»Ich versprech’s.«
18. Kapitel
»Was kann ich für Sie tun, Savannah?«
Die raue Stimme am anderen Ende des Telefons passte zu dem Foto, das auf der Website des Sheriffs von Elk Run County in Montana prangte. Mick Jepperson war ein rotgesichtiger, stämmiger Mann mit schütterem Haar, der seit zweiundzwanzig Jahren bei der Polizei arbeitete. Ryne hoffte, der Mann war wirklich so erfahren, wie er klang.
»Ich ermittle
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