Seelenmoerder
eine Gefahr für sich selbst oder andere darstellte? Schon dass sie die Rasierklinge zu Abbie mitgenommen
hatte, bewies doch, wie weit es mit ihr gekommen war. Aber sie hatte sie nicht verletzen wollen, wie Abbie ehrlich glaubte, nachdem ihre Schwester es ihr im Lauf der Nacht immer wieder geschworen hatte. Ihrer kleinen Schwester wehzutun war das Letzte, was Callie je gewollt hatte.
Abbie griff nach ihrer Laptoptasche, stieg aus und schlug mit der Hüfte die Wagentür zu. Zuvor hatte sie Callie in dem Hotel zu Bett gebracht, wo sie abgestiegen war, einem recht ordentlichen, wenn auch billigen Haus, und hatte bei ihr gesessen, bis sie endlich eingeschlafen war, das Gesicht noch feucht von Tränen, weil sie Abbie solches Leid zugefügt hatte.
Und dann war Abbie stundenlang an Callies Bett gesessen, hatte mit starrem Blick aus dem Fenster gesehen, bis die Nacht in den Morgen überging, und über die Vergangenheit nachgegrübelt, die sie beide noch derart in den Klauen hielt.
Sie richtete den Strahl der kleinen Taschenlampe auf ihre Veranda und ging ums Auto herum. Es war schon fast sechs gewesen, ehe sie ins Revier gekommen war, nachdem sie mehrere ehemalige Nachbarn von Karen Larsen befragt und die tieftraurige Schwester von Ashley Hornby getröstet hatte. Ryne war weder im Büro aufgetaucht, noch war er an sein Handy gegangen. Abbie hatte noch ein paar Stunden gearbeitet, doch er war nicht mehr gekommen, und sie hatte endlich Feierabend machen wollen.
Im Lauf des Tages hatte sie zweimal bei Callie angerufen, die sich beide Male brav gemeldet hatte. Aber morgen musste sie sie wieder treffen, um sich zu vergewissern, dass Callie ihre Medikamente korrekt einnahm …
Aus dem Augenwinkel registrierte sie eine Bewegung und ließ instinktiv die Tasche mit dem Laptop fallen, ehe sie nach ihrer Pistole griff. Doch da stürzte etwas Schweres auf sie und schleuderte sie brutal gegen den Kofferraum ihres
Autos, sodass ihr verletzter Arm zwischen ihrem Körper und dem Metall eingeklemmt wurde.
Sie fluchte vor Verblüffung und Schmerz zugleich und wehrte sich sofort ganz automatisch, während alte und neue Ängste in ihr aufwallten.
Die Schatten drängten heran, finster und bedrohlich. Der schwere Atem klang nah. Sie war allein. Schutzlos in der Dunkelheit.
Sie schüttelte die Gespenster der Vergangenheit ab und holte mit den Schlüsseln aus, in der Hoffnung, ihren Angreifer im Gesicht zu treffen, doch er wehrte den Schlag ab, und ihre Schlüssel flogen davon. Im nächsten Augenblick stieß sie mit dem Fuß zu und traf auf ein hartes Knie.
»Verdammt!«
Sie wurde enger ans Auto und mit dem Gesicht gewaltsam auf den Kofferraumdeckel gepresst, während sich ein massiger Körper an sie drängte. »Du kommst dir ganz schön schlau vor, du kleines Miststück, oder?«
Sie erstarrte und versuchte die hasserfüllte Stimme an ihrem Ohr zu erkennen. »Ich wusste, dass du Ärger machst, sobald ich dich das erste Mal gesehen habe. Du musstest ja gleich zu Robel rennen, was? Konntest nicht zuerst zu mir kommen. Es mich erklären lassen.«
Abbie begriff und schnappte nach Luft, während sie fieberhaft nachdachte. »Ich musste es Robel sagen, Nick. Das weißt du.«
»Schwachsinn.« Er wich zurück und drehte sie grob um, sodass sie ihm gegenüberstand. Schützend hielt sie sich den unversehrten Arm vor die Brust. »Du hattest es von Anfang an auf mich abgesehen. Ihr Weiber seid alle gleich. Du bist diejenige, die in dieser Sonderkommission nichts verloren hat. Aber ich gehöre dazu, in den Polizeidienst. Was zum Teufel hast du schon beigetragen, hä?«
Abbie taxierte Nick McElroy aufmerksam. Er war betrunken, aber keineswegs kampfunfähig. War er so betrunken, dass ihm der Schaden für seine Karriere gleichgültig war, wenn er sie verletzte? Wahrscheinlich nicht. Aber sie kannte den Mann einfach nicht gut genug, um vorherzusehen, wozu er imstande war.
In den letzten vierundzwanzig Stunden hatte sie sich ohnehin nicht besonders gut dabei geschlagen, potenzielle Gefahren für sich selbst richtig einzuschätzen.
»Was willst du, Nick?«, fragte sie im Plauderton. »Was soll das bringen?« Wenn sie ihn ablenken konnte, hätte sie vielleicht eine Chance, ihre Waffe zu ziehen. Und ganz egal, was Nick McElroy im Schilde führte, mit der Sig in der Hand würde sie sich gleich wesentlich sicherer fühlen.
»Ich will, dass du den Schaden wiedergutmachst, den du angerichtet hast, als du das dumme Geschwätz der Chan an Robel weitergegeben
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