Seelenmoerder
Nerven waren zum Zerreißen gespannt, und in diesem Augenblick hätte sie ohne weiteres ihren äußerst großzügigen monatlichen Gehaltscheck gegeben, um Robel verschwinden zu lassen.
»Gut. Schön.« Sie ließ die Tüte los und trat einen Schritt zurück. Seine unergründliche Miene machte ihr nur allzu bewusst, dass sie dabei rot anlief. »Und ich brauche keine freien Stunden. Bis morgen dann.«
Ohne ein weiteres Wort ging er hinaus. Sie schloss die Tür hinter ihm und sperrte ab, wobei sie sich ein bisschen blöd vorkam. Für einen Einbrecher wäre es ein Kinderspiel, das eingesetzte Stück Pappe zu entfernen, hereinzufassen und die Tür zu öffnen. Sie holte einen Küchenstuhl und klemmte ihn unter den Knauf, obwohl sie sich ziemlich sicher war, dass der Eindringling nicht zurückkommen würde. Jedenfalls nicht heute Nacht.
Entschlossen kehrte Abbie ins Wohnzimmer zurück, um sich erneut in Arbeit zu vertiefen, als ihr etwas einfiel. Sie musste ein Einkaufszentrum finden und ein paar Sachen besorgen. Soeben hatte sie alle ihre mitgebrachten Hemden wegwerfen müssen.
In ihr machte sich Frustration breit. Als ob der Einbruch nicht schon ärgerlich genug wäre, musste sie jetzt auch noch einkaufen gehen, dabei hasste sie es regelrecht, stundenlang Kleider auszusuchen. Doch das hatte der Eindringling natürlich gewusst.
Unweigerlich wanderte ihr Blick zu den Fotos, die sie wieder auf den Kaminsims gestellt hatte. Zu der blonden Frau mit dem allzu breiten Lächeln, die Arm in Arm neben ihr stand.
»Callie?« Als sie merkte, dass sie den Namen laut gesagt
hatte, kam sie sich auf der Stelle dumm vor. Das kleine Haus war bereits mehrfach durchsucht worden. Es war niemand hier.
Doch zuvor war jemand hier gewesen, und es war mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ihre Schwester gewesen. Die geballte Anspannung der letzten Stunde sammelte sich in ihren Schläfen, die sofort schmerzhaft zu pochen begannen. Zwar hatte sie Callie seit Monaten nicht mehr gesprochen, ihr jedoch etliche Nachrichten auf Band hinterlassen. Und Nachsendeadressen. Sie hatte keine Ahnung, warum Callie ausgerechnet jetzt in Erscheinung trat und auf diese Weise, doch sie war sich fast sicher, dass es ihre Schwester gewesen war. Die Verwüstung ihres Kleiderschranks war Beweis genug.
Nur Callie wusste von ihrer Vorliebe für langärmlige Hemden und von den Narben, die sie bedeckten.
Nur Callie würde es wagen, diese Narben buchstäblich vor aller Welt zur Schau zu stellen.
5. Kapitel
Die junge Frau in dem Krankenhausbett kannte sich mit Narben aus. Hätte Abbie die nach dem Überfall auf Amanda Richards gemachten Aufnahmen nicht gesehen, hätte sie kaum für möglich gehalten, dass das Mädchen bereits zweimal operiert worden war. Von mehreren Zeitungsfotos in den Unterlagen wusste sie, dass ihr Gesicht einmal außerordentlich schön gewesen war.
Jetzt war es ein Stückwerk aus Nähten und wulstiger, gespannter Haut, als hätte man die zerfetzten Reste zu fest zusammengezurrt, weil das darunter liegende Fleisch nicht mehr gereicht hatte. Ein Auge lag deutlich tiefer als das andere
und ließ Amandas Züge unregelmäßig wirken. Abbie sah auf den ersten Blick, dass der heutigen noch etliche weitere Operationen folgen würden.
Sie klopfte an die offene Tür des Krankenzimmers, worauf sich alle drei Personen im Raum zu ihr umwandten. »Hi, ich bin Abbie Phillips, ich arbeite als Beraterin beim SCMPD.«
»Herrgott noch mal!«, fauchte die Frau, die neben dem Bett saß. Das musste Amandas Mutter sein. Sie ähnelte den Zeitungsfotos von Amanda einfach zu sehr. Die Frau erhob sich und ging auf Abbie zu. »Sie und Ihre Kollegen suchen sich aber auch immer den ungeeignetsten Zeitpunkt aus.«
»Ich habe sie gebeten zu kommen, Mutter.« Amandas Stimme klang freundlich, aber entschlossen. »Die Operation ist doch erst heute Nachmittag. Wir haben jede Menge Zeit.«
»Du sollst dich aber vor dem Eingriff nicht aufregen.« Die Ältere wandte Abbie den Rücken zu und strich ihrer Tochter das blonde Haar aus dem zerstörten Gesicht. »Worum es auch geht, es kann warten.«
Amanda sah den Mann mittleren Alters an, der auf der anderen Bettseite saß. »Daddy? Würdest du bitte eine Weile mit Mutter in die Cafeteria gehen?«
Er zögerte und warf Abbie einen bösen Blick zu, ehe er sich ein Lächeln für seine Tochter abrang. »Aber klar, Liebes.«
»Phil, also ehrlich. Ich finde nicht …«
Er ignorierte die Einwände seiner Frau, ging ums Bett
Weitere Kostenlose Bücher