Seelenmoerder
ihre Pillen nicht nahm, ging es ihr oft noch ein paar Wochen lang gut, ehe der unvermeidliche Absturz kam, dessen Auswirkungen jeder in ihrem Umfeld zu spüren bekam. Abbie lebte schon seit jeher damit, und Callie konnte noch weitaus Schlimmeres anrichten, als den Inhalt eines Kleiderschranks zu verwüsten oder einen Backstein durch ein Autofenster zu werfen. Genau das machte Abbie Kopfzerbrechen.
Sollte sie Dr. Faulkner anrufen? Seit vier Monaten hatte sie nicht mehr mit dem Psychotherapeuten ihrer Schwester gesprochen, was etwa dem Zeitraum entsprach, seit Callie ihn nicht mehr aufsuchte. Das hatte er Abbie natürlich nicht sagen können, denn Callie unterschrieb schon lange keine Vollmachten mehr, mit denen sie der Weitergabe von Informationen an ihre Schwester zustimmte. Doch Abbie hatte
ganz gut zwischen den Zeilen seiner vorsichtigen Antworten lesen können.
Im nächsten Augenblick entschied sie sich dagegen. Falls Callie für die Anschläge auf sie verantwortlich war, lag auf der Hand, dass sie nicht mehr in ärztlicher Behandlung war. Abbie konnte nicht mehr zählen, wie oft sich dieser Kreislauf bereits wiederholt hatte. Das Beste wäre, sich unter vier Augen mit Callie zu treffen, was manchmal beruhigend auf sie wirkte. Wenigstens eine Zeitlang.
Sie spähte zu Ryne hinüber. Er hatte eine Sonnenbrille aufgesetzt, sodass sie seine Augen nicht sehen konnte, doch sein Gesichtsausdruck war neutral. Allerdings fragte er sich garantiert, was zum Teufel eigentlich los war, und sie wappnete sich bereits für den Ansturm von Fragen.
»Denken Sie das Gleiche wie ich?«
Innerlich rüstete sie sich für eine Auseinandersetzung. »Was?«
Er grinste sie an. »Dass Barlow womöglich jemanden dafür bezahlt hat, den Stein zu werfen, damit Sie ihn nicht vor seinen Freunden kurz und klein schlagen?«
Erstaunt lachte sie auf. »Das glaube ich nicht. Er ist gut. Man merkt, dass er trainiert.«
»Ich habe gehört, dass er Amateurboxer war, ehe er auf die Polizeischule gegangen ist. Soweit ich weiß, hatte er einen recht guten Namen, doch dann hat er sich für den Polizeidienst entschieden.«
Das Gespräch wandte sich erst ihrem Training in Muay Thai zu, dann dem Fitnessstudio und schließlich Rynes Wagen, den er – wie er gestand – gekauft hatte, weil er als Teenager immer von einem solchen geträumt hatte. Das Reden über harmlose Themen entspannte Abbie etwas. Sie musste ihre Familie weder Ryne noch sonst jemandem erklären. Das ließ ihr Zeit, sich zu überlegen, wie sie es schaffen könnte,
dass sich Callie mit ihr traf und sich von ihr überzeugen ließ, ihre Medikamente wieder zu nehmen. Und wieder in Therapie zu gehen.
Doch fürs Erste würde sie sich nicht den Kopf darüber zerbrechen, wie sie diese beiden Aufgaben erfüllen sollte.
»Danke fürs Mitnehmen.«
Ryne stieg mit Abbie aus und nahm ihre Sporttasche vom Rücksitz. Sie hatte sich gar nicht erst umgezogen, ehe sie sich zu ihm ins Auto gesetzt hatte, und er auch nicht. Nachdem sie ihren Bericht für die Polizei verfasst und die Zeugenaussagen der Besucher des Fitnessstudios aufgenommen hatte, wollte sie nur noch nach Hause. Sie musste schnellstens den Autoverleih verständigen und ein Ersatzfahrzeug bestellen, ganz zu schweigen von dem unvermeidlichen Versicherungstamtam, das nun auf sie zukam.
Beim Gedanken daran verdüsterte sich ihre Stimmung und wurde auch nicht besser, als Ryne ihre ausgestreckte Hand ignorierte und ihr die Tasche bis zur Hintertür trug. Er hatte die Ereignisse des Tages mit erstaunlich guter Laune hingenommen, doch jetzt, wo sie zu Hause war, wollte sie ihn loshaben, obwohl sie sich dabei ziemlich schäbig vorkam.
Daher unterdrückte sie den Wunsch, ihm zu erklären, dass sie jetzt gut alleine zurechtkam, und zog den Schlüssel aus der Tasche, um die Tür aufzuschließen. Als er hineinging, bereute sie ihr Handeln auf der Stelle.
Der Mann besaß eine Präsenz, die einen unauslöschlichen Eindruck hinterließ. Er war bisher nur ein einziges Mal hier gewesen, doch seitdem blitzte regelmäßig sein Bild vor ihr auf, wenn sie durch die Tür ging, und jedes Mal, wenn sie die gerahmten Fotos auf dem Kaminsims betrachtete, sah sie ihn vor sich, wie er vor dem Kamin stand und ein Bild nach dem anderen musterte.
Diese kurz aufflackernden Bilder waren beunruhigend, umso mehr, da sie wusste, dass sie auf ihr nicht zu leugnendes Interesse an ihm zurückgingen, und das war ihr ebenso unwillkommen wie unheimlich.
Sie
Weitere Kostenlose Bücher