Seelenmoerder
den Tag legte, wenn sie ihre Medikamente nicht mehr nahm.
»Sie … wer?«
»Meine Schwester. Sie hat eine bipolare Störung, und wenn sie nicht unter ärztlicher Aufsicht steht, kann ihr Verhalten … unberechenbar sein.«
Obwohl sie ihn nicht ansah, wusste sie, dass ihre Antwort ihn erstaunt hatte. Doch fürs Erste steckte sie viel zu tief in der Vergangenheit fest, um sich über seine Neugier zu echauffieren. Callie war die einzige echte Verwandte, die sie hatte, obwohl sie eher wie Überlebende einer Naturkatastrophe
zueinander standen als wie Schwestern. Die Komplexität ihrer Beziehung hätte einen guten Psychotherapeuten jahrelang beschäftigt. Sie verstand sie ja selbst höchstens ansatzweise.
»Sie lebt hier in Savannah?«
»Nein.« Dann korrigierte sie sich. »Ich weiß es nicht. Sie zieht oft um. Und sie hat sich seit ein paar Monaten nicht mehr gemeldet. Ich hinterlasse ihr immer meine aktuelle Adresse, daher weiß sie, wo ich bin.« Doch sie hatte nicht erwartet, dass ihr Callie nach Savannah folgen würde. So etwas hatte sie noch nie getan.
»Würde sie versuchen, Sie zu verletzen?«
Abbie wandte sich abrupt zu Ryne um. Die Frage verblüffte sie ebenso wie die spontane Verneinung, die ihr auf der Zunge lag. Die wenigsten wussten, was Callie auf sich genommen hatte, um Abbie zu beschützen, als sie noch Kinder waren. Noch weniger Menschen wussten, was es hieß, eine so gigantische Schuld abtragen zu müssen. Auf die eine oder andere Art bezahlte sie zeit ihres Lebens dafür.
Plötzlich fröstelte sie und schlang sich die Arme um den Leib. »Ich habe keine Angst vor ihr. Wenn sie dazu bereit ist, wird sie sich schon melden.« Als sie seinen zweifelnden Blick sah, sprach sie weiter. »Ich kümmere mich schon mein ganzes Leben um sie, Ryne. Obwohl sie älter ist als ich, war ich sogar eine Zeitlang ihr Vormund. Das alles birgt Komplikationen für mich, aber nicht für die Ermittlungen.«
Ryne schwieg eine ganze Weile, bis sie das Gefühl hatte, die Spannung in den Schultern zu spüren. Schließlich nickte er bedächtig. »Na gut.«
»Freut mich, dass die schmutzigen kleinen Details aus meinem Familienleben Sie beruhigt haben.« Seit Jahren hatte sie gegenüber niemandem mehr so viele persönliche Informationen
preisgegeben, abgesehen von Adam Raiker, vor dem man nur sehr wenig geheim halten konnte. Und sie nahm es Robel ausgesprochen übel, dass er sie dazu gezwungen hatte.
Sie marschierte in Richtung Tür, entschlossen, ihn zu verabschieden. Ehe sie an ihm vorbeigehen konnte, hielt er sie auf, indem er ihr eine Hand auf den Arm legte. »Tut mir leid.«
Argwöhnisch starrte sie ihn an. »Was – dass Sie Ihre Nase in etwas gesteckt haben, das Sie nichts angeht?«
Um seinen Mund zuckte es. »Das müssen Sie wohl so sehen, was? Aber ich wollte sichergehen, dass die Ermittlungen nicht davon betroffen sind. Nein, das mit Ihrer Schwester tut mir leid. Es muss … eine ziemliche Belastung sein.«
Abbie hätte beinahe aufgelacht. »Belastung« war ein so harmloser Begriff für den inneren emotionalen Kampf, der ihre Gedanken an Callie stets begleitete. Doch ihr Zynismus versiegte sofort, als sie seinen Blick auf sich ruhen sah und sich die Besorgnis in seinen Augen zu etwas anderem wandelte.
Verlangen. Sofort schoss auch ihr die Hitze ins Blut, etwas, was sie um jeden Preis vermeiden wollte. Obwohl sie Ryne mittlerweile zu respektieren gelernt hatte, konnte sie nicht behaupten, dass er ihr immer sympathisch war.
Doch er war ihr immer bewusst . Zwischen ihnen bestand eine Anziehungskraft, die stets in den seltsamsten Augenblicken aufwallte. Sie übersprang Nervenenden und entfachte seit langem schlummernde Gefühle, die in dem Leben, das sie für sich entworfen hatte, keinen Platz hatten. Und in Rynes Blick erkannte sie, dass er genauso empfand. Schlagartig begriff sie, dass dies weitaus leichter zu ignorieren war, wenn er sie absichtlich provozierte, als wenn er sich unerwartet freundlich zeigte.
Nur wenige Zentimeter trennten sie. Sie schluckte und kämpfte gegen den Wunsch an, die Distanz zu schließen, ihre Lippen auf seinen harten Mund zu pressen und herauszufinden, ob er sich für sie öffnete. Doch noch während sie um die Disziplin rang, an ihm vorbeizugehen, der Versuchung zu entfliehen, senkte er den Kopf und bedeckte ihre Lippen mit seinen.
Er wusste, wie man eine Frau küsst. Fest. Fordernd. Feurig. Die Erkenntnis traf sie mit einer Spur Resignation, während ihr Körper bereits
Weitere Kostenlose Bücher