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Seelennacht

Seelennacht

Titel: Seelennacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kelley Armstrong
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nicht erfolgreichen Fällen das Gegenteil eingetreten. Hier erscheinen die Kräfte verstärkt, und das Gleiche gilt für die unerwünschten Nebenwirkungen – vor allem ein sehr plötzliches Einsetzen dieser Kräfte und, noch bedenklicher, ihre unkontrollierbare Natur, die allem Anschein nach emotional verankert ist.
    Unkontrollierbare Kräfte. Emotional verankert.
    Ich dachte an Tori, ihr Schluchzen, dass sie es nicht verhindern konnte, dass die Dinge einfach passierten, wenn sie wütend wurde. Wie bei Liz. Wie bei Derek. Wie bei Rae. Wie bei mir?
    Ich überflog die nächste Seite. Sie beschrieb, wie mit diesen »nicht erfolgreichen« Fällen zu verfahren war – die Einweisung in ein Wohnheim, der Versuch, den Kräften mit Medikamenten beizukommen und die Testpersonen davon zu überzeugen, dass sie psychisch krank waren. Wenn auch das fehlschlug …
    Die Kräfte der Paranormalen steigern sich im Lauf der Pubertät, was bedeutet, dass sie auch in den nicht erfolgreich verlaufenen Fällen weiterhin stärker werden. Man kann mit großer Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass die Kräfte hier auch weiterhin in ihrem willkürlichen Charakter und ihrer Unkontrollierbarkeit zunehmen werden, womit sie eine Gefahr für das Leben der Testpersonen selbst ebenso wie für das Leben Unbeteiligter in ihrer Umgebung darstellen und, vielleicht die am schwersten wiegende Möglichkeit, eine unmittelbare Gefahr sind, die gesamte paranormale Welt zu enttarnen.
    Wir haben dieses Experiment in der Hoffnung begonnen, das Leben aller Paranormalen zum Besseren zu wenden. Wir dürfen nicht riskieren, durch unsere Handlungsweise ebendiese Welt zu gefährden. Als verantwortungsvolle Wissenschaftler müssen wir auch die Verantwortung für unsere Fehlschläge übernehmen und durch entschiedenes Vorgehen den entstandenen Schaden minimieren. Aus diesem Grund wurde mit tiefem Bedauern die (wenngleich nicht einstimmige) Entscheidung getroffen, die Versuchspersonen in Fällen, in denen ein vorab festgelegter Rehabilitationsprozess fehlschlägt, rasch und schmerzlos zu terminieren.
    Ganz unten folgte eine Liste von Namen, jeweils mit dem aktuellen Status versehen.
    Peter Ricci – rehabilitiert
    Mila Andrews – rehabilitiert
    Amber Long – terminiert
    Brady Hirsch – terminiert
    Elizabeth Delany – terminiert
    Rachelle Rogers – Rehabilitierung verläuft aussichtsreich
    Victoria Enright – Rehabilitierung verläuft aussichtsreich
    Und schließlich ganz unten noch zwei Namen:
    Derek Souza – ???
    Chloe Saunders – ???
    Ich weiß nicht, wie lang ich diese Liste – und diese Fragezeichen – angestarrt hatte, als mich etwas am Hinterkopf traf. Ich fuhr herum und sah einen Tacker über den Teppich rollen.
    »Café mocha«, hörte ich Dr. Davidoffs Stimme unmittelbar vor der Tür sagen. »Entkoffeiniert, fettfrei.«
    Als ich mich hastig ausloggte, jagte mein Blick zwischen dem Raum unter dem Schreibtisch und der Tür zum Lesezimmer hin und her. Der Platz unterm Schreibtisch war näher, aber dort würde ich in der Falle sitzen. Ein plötzlicher Anfall von Mut ließ mich in Richtung Tür stürzen. Ich schaffte es –
bis
zur Tür, nicht durch sie hindurch ins Lesezimmer –, bevor sich die Tür zum Flur klickend öffnete. Ich fuhr herum und drückte mich unmittelbar neben einem hohen Bücherregal an die Wand. Dort war ich außer Sicht – gerade so.
    Ich streckte die Hand nach dem Knauf der Lesezimmertür aus. Aber wenn ich sie weit genug öffnete, um mich durchschieben zu können, würde er mich bemerken.
    Geh zum Schreibtisch,
flehte ich in Gedanken.
Geh deine E-Mails checken. Hör die Voicemail ab. Bloß, bitte, bitte, bitte, geh nicht gleich als Erstes nach mir sehen.
    Seine Schritte schienen geradewegs in meine Richtung zu kommen. Ich presste mich an die Wand und hielt den Atem an. Sein Arm wurde sichtbar. Dann ein Knie. Dann … Er hielt inne. Arm und Knie wandten sich dem Schreibtisch zu. Er bückte sich und hob den Tacker vom Fußboden auf.
    O Gott. Jetzt wusste er Bescheid. Ich musste mich zeigen. Irgendeine Geschichte erfinden und mich stellen, bevor er mich erwischte. Ich trat einen Schritt vorwärts. Ein Klappern durchbrach die Stille. Meine Zähne? Nein, der Stiftbehälter auf dem Schreibtisch zitterte, und die Kugelschreiber und Bleistifte darin rasselten.
    Dr. Davidoff starrte zu ihm hinüber, den Kopf zur Seite geneigt, als fragte er sich:
Bin ich das?
Er umfasste den Stiftbehälter. Das Zittern hörte auf. Als er

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