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Seelennacht

Seelennacht

Titel: Seelennacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kelley Armstrong
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und ich jemals irgendein Thema für eine Unterhaltung gefunden hätten –, aber nach einer Weile wäre mir sogar unser übliches Gegifte lieber gewesen als das wortlose Abwarten, bei dem es nichts zu tun gab, außer nachzudenken. Und zu weinen. Davon tat ich eine ganze Menge, so leise, wie es mir möglich war. Ich hatte den Umschlag von Tante Lauren jetzt so oft aus der Tasche gezogen, dass er voller Tränenflecken war. Ich wünschte mir, ihn zu öffnen, aber zugleich hatte ich panische Angst, dass die Erklärung, die er enthielt, nicht gut genug sein würde, dass sie nicht gut genug sein
konnte
 – und es war mir so unglaublich wichtig, dass sie gut genug war.
    Irgendwann ertrug ich es einfach nicht mehr und riss den Umschlag auf. Ich fand Geld darin, das ich mir in die Tasche schob, ohne es zu zählen. Dann faltete ich den Brief auseinander.
    Tante Lauren begann damit, dass sie erklärte, wie die Nekromantie funktionierte. Auch in Nekromantenfamilien sah nicht jedes Familienmitglied Geister. Die Mehrzahl tat es nicht. Auch Tante Lauren tat es nicht. Ebenso wenig hatten meine Mom oder ihre Eltern Geister sehen können. Aber mein Onkel hatte es gekonnt. Der Zwillingsbruder meiner Mutter, Ben – ich hatte nicht einmal gewusst, dass sie einen Zwillingsbruder gehabt hatte. Tante Lauren schrieb:
    Ben ist lange vor Deiner Geburt gestorben. Deine Mom hätte Dir Fotos von ihm zeigen können, aber Du warst noch zu jung, um so etwas zu begreifen. Nachdem sie nicht mehr da war … es kam mir einfach sinnlos vor, es dann noch zur Sprache zu bringen. Er hat angefangen, Geister zu sehen, als er wenig älter war als Du jetzt. Er ist zusammen mit Deiner Mom aufs College gegangen, aber es war einfach zu viel für ihn, und er ist wieder zu unseren Eltern gezogen. Deine Mom wollte eigentlich das Studium abbrechen und auch zurückgehen, um auf ihn aufpassen zu können, er bestand aber darauf, dass sie an der Universität bleibt. Ich habe versprochen, ein Auge auf ihn zu haben, aber ich habe nicht wirklich begriffen, was er durchgemacht hat. Er ist mit neunzehn Jahren zu Tode gestürzt. Ob er gesprungen ist oder auf der Flucht vor Geistern war, haben wir nie erfahren.
    Kam es darauf an? So oder so, seine Begabung hatte ihn umgebracht. Ich sagte mir ständig, dass die Geister mir nichts tun konnten, aber instinktiv wusste ich, dass es nicht stimmte, und jetzt hatte ich den Beweis dafür. Dass man nicht in der Lage ist, den Arm auszustrecken und jemanden vom Dach zu stoßen, bedeutet nicht, dass man ihn nicht umbringen kann.
    Deine Mom hatte sich um Unterstützung für Ben bemüht, bevor er ums Leben kam. Unsere Familie hatte Verbindungen zur nekromantischen Gemeinschaft, und irgendwann hat ihr jemand den Kontakt zur Edison Group vermittelt. Allerdings hat sie den Namen erst einen Monat nach Bens Tod erfahren. Später, als ich mein Medizinstudium aufgenommen hatte, habe ich mich selbst mit ihnen in Verbindung gesetzt. Ich dachte mir, wenn es sich bei den Leuten um Wissenschaftler handelte, dann würden sie eine Ärztin brauchen können, und wenn ich Menschen wie Ben helfen konnte, dann wollte ich es tun. Deine Mom hatte damit nichts zu tun – zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Das kam erst, als sie sich ein Kind gewünscht hat.
    Sie hatte Kinder haben wollen – nach dem, was ihrem Bruder zugestoßen war?
    Wie um die Frage zu beantworten, hatte Tante Lauren geschrieben:
    Man muss einfach verstehen, Chloe, dass es wie jede andere genetische Störung ist. Es ist ein Risiko, das man akzeptiert. Wenn unsereins ein Kind hat, das die Fähigkeit erbt, dann wird man sich der Sache eben annehmen müssen. Deine Mutter allerdings wollte das Risiko nicht eingehen – nicht nach der Sache mit Ben. Sie wollte stattdessen ein Kind adoptieren. Deines Vaters wegen stellte sich das als unmöglich heraus. Es gab Umstände in seiner Vergangenheit, die ihn in den Augen der zuständigen Behörden ungeeignet erscheinen ließen. Deine Mutter war sehr unglücklich darüber, sie wünschte sich wirklich verzweifelt ein Kind. Sie hat andere Möglichkeiten in Betracht gezogen, die aber alle Geld gekostet haben. Zu dieser Zeit lebten Deine Eltern in einem rattenverseuchten Loch im Stadtzentrum, jeder Cent, den sie verdient haben, wurde in das neue Geschäft Deines Vaters investiert. Dann habe ich ihr von einem Durchbruch erzählt, der der Edison Group gelungen war. Ein Team von Wissenschaftlern hatte das Gen identifiziert, das für die Gabe der Nekromantie

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