Seelennacht
ein Problem. Ich richtete mich ein wenig auf und schlich mich so leise wie möglich vorwärts. Durch das dichte Gestrüpp hindurch sah ich gelben Pelz aufleuchten. Der Mann schwenkte die Hand, und etwas Silbernes blitzte, als hielte er eine Kettenleine in der Hand. Er wirkte sehr wütend, und ich konnte es ihm nicht verdenken, denn es war kalt und nass und matschig hier draußen, und sein Hund schien entschlossen, seine Geschäfte im finstersten Teil des Waldstücks zu erledigen.
Als der Fuß des Mannes zu einem Tritt nach vorn schoss, war es mit meinem Mitgefühl schlagartig vorbei. Ich fuhr zusammen, einen ärgerlichen Ruf auf den Lippen. Dann sah ich, dass das vor ihm kein Hund war. Es war ein Mädchen mit langem blondem Haar. Sie trug Jeans und ein helles T-Shirt und kroch auf allen vieren, als versuchte sie, dem Mann zu entkommen.
Er trat wieder nach ihr, sie versuchte, sich zur Seite zu drehen, und kroch hastig und ungeschickt vorwärts, als wäre sie zu schwer verletzt, um aufzustehen und zu rennen. Als sie das Gesicht in meine Richtung drehte, sah ich, dass sie nicht älter sein konnte als ich. Waschbärringe aus verschmierter Mascara um die Augen, Dreckstriemen im Gesicht. Dreck und Blut, wie ich plötzlich sah. Aus ihrer Nase tropfte immer noch Blut und hinterließ dunkle Flecken auf ihrem T-Shirt.
Ich sprang auf, und gerade als ich es tat, hob der Mann die Hand. Silber blitzte auf – keine Kette, ein Messer. Eine Sekunde lang sah ich nichts außer diesem Messer, während meine Erinnerung zu dem Mädchen aus der Sackgasse, zu der über meinem Auge hängenden Messerspitze zurückstolperte. Die Angst, die ich bis jetzt mit so viel Mühe verdrängt hatte, schoss schlagartig durch mich hindurch.
Der Mann packte das lange Haar des Mädchens und riss ihr den Kopf nach hinten. Das löste meine Erstarrung, und ich öffnete den Mund, um zu rufen, irgendetwas zu brüllen, irgendwie seine Aufmerksamkeit zu erregen, damit sie entkommen konnte.
Das Messer jagte durch die Luft, geradewegs auf die Kehle des Mädchens zu, und jetzt schrie ich wirklich auf. Das Messer glitt hindurch, scheinbar ohne eine Spur zu hinterlassen, und ich war mir sicher, dass er sie verfehlt hatte. Dann öffnete sich ihre Kehle – klaffte, gähnte, und Blut schoss in einem Schwall hervor.
Ich fiel nach hinten und schlug mir beide Hände vor den Mund, um den nächsten Aufschrei zu ersticken. Er stieß das sterbende Mädchen mit einem angewiderten Schnauben von sich. Sie stürzte auf den Boden, das Blut quoll immer noch, der Mund bewegte sich, die Augen rollten wild.
Der Mann drehte sich zu mir um. Ich rannte los, stürzte strauchelnd und stolpernd durchs Unterholz. Ich musste zurück zu Derek, ihn wecken, ihn warnen. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, aber schließlich hatte ich die Lichtung erreicht. Als ich neben ihm auf die Knie fiel, meinte ich aus dem Augenwinkel etwas zu sehen und drehte mich um … nur um den Mann wieder genau dort zu sehen, wo er zum ersten Mal aufgetaucht war, an genau der gleichen Stelle und unterwegs in die gleiche Richtung.
Sein Mund öffnete sich, er sagte etwas, aber es kamen keine Worte heraus. Warum konnte ich ihn nicht hören? Es war so still in dem Waldstück, dass meine keuchenden Atemzüge sich anhörten wie eine Dampflok, aber ich hörte nicht einmal die Schritte des Mannes. Plötzlich bemerkte ich, dass ich die ganze Zeit nichts gehört hatte.
Ich griff in die Tasche meiner Jacke, die nach wie vor über Derek gebreitet war, und holte das Schnappmesser heraus, das ich dem Mädchen in der Gasse abgenommen hatte. Inzwischen war ich mir einigermaßen sicher, dass ich nicht in Gefahr war, aber ich würde es nicht drauf ankommen lassen. Ich schlich wieder auf die beiden Gestalten zu, die sich lautlos durch den Wald bewegten. Der Mann trat ein zweites Mal nach dem Mädchen, aber auch diesmal verursachte der Aufprall kein Geräusch, ihr Sturz verursachte kein Geräusch,
sie
gab kein Geräusch von sich.
Geister. Wie der Selbstmörder in der Fabrik.
Nein, keine Geister. Geister mochten sich lautlos bewegen, aber ich konnte sie reden hören. Ich konnte mit ihnen kommunizieren. Dies hier waren einfach nur Bilder. Metaphysische Clips von einem Vorfall, der so fürchterlich gewesen war, dass er sich diesem Ort eingeprägt hatte und unaufhörlich ablief.
Der Mann packte das Mädchen am Haar. Ich kniff die Augen zusammen, aber ich sah es immer noch. Die Erinnerung hatte sich jetzt auch mir eingeprägt und
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