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Seelennacht

Seelennacht

Titel: Seelennacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kelley Armstrong
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lief auf der Innenseite meiner Lider ab.
    Ich schluckte und trat den Rückzug an. Auf der Lichtung hockte ich mich neben Derek, zog die Knie an die Brust, wandte der Szene, die dort im Wald ablief, den Rücken zu. Aber es machte keinen Unterschied, dass ich sie nicht mehr sehen konnte. Ich wusste, sie war da, ging hinter mir ihren Gang, und es kam nicht darauf an, dass ich nicht
wirklich
gesehen hatte, wie ein Mädchen ermordet wurde, denn in gewisser Weise
hatte
ich es gesehen.
    Ein Mädchen meines Alters war in diesem Waldstück umgebracht worden, und ich hatte die letzten verängstigten Momente ihres Lebens gesehen, hatte gesehen, wie sie hier in diesem Wald verblutet war. Ein Leben so wie mein eigenes war hier zu Ende gegangen, und es war nicht wichtig, wie oft ich im Film schon Leute hatte sterben sehen, es war nicht das Gleiche, und ich würde es niemals vergessen.
    Ich schauderte, Dunkelheit umgab mich. Ich habe das Dunkel seit meiner Kindheit gehasst. Heute weiß ich warum. Als ich klein war, habe ich im Dunkeln Geister gesehen, die meine Eltern als kindliche Schreckgespenster abgetan hatten. Jetzt wusste ich, dass die »Schreckgespenster« Wirklichkeit gewesen waren, und dieses Wissen war nicht gerade hilfreich.
    Jedes Flüstern des Windes klang wie eine Stimme. Jedes Rascheln, das irgendein Tier im Wald verursachte, war ein armes Geschöpf, das ich aus dem Totenreich beschworen hatte. Jedes Knarren eines Baums war eine Leiche, die sich aus dem kalten Erdboden herauszuarbeiten versuchte. Jedes Mal, wenn ich die Augen schloss, sah ich das tote Mädchen. Dann sah ich die toten Fledermäuse. Dann sah ich wieder das Mädchen, das irgendwo in diesem Waldstück verscharrt war, niemals gefunden worden war, sah, wie sie in ihrem flachen Grab aufwachte, gefangen in ihrer verwesenden Leiche, ohne schreien zu können, ohne sich befreien zu können …
    Ich hielt die Augen offen.
    Ich überlegte, Derek zu wecken. Er würde sich nicht beklagen, wenn ich es tat. Aber nach dem, was er gerade erst durchgemacht hatte, kam ich mir albern vor bei dem Gedanken, ihm zu erklären, dass ich es einfach nicht aushielt hier draußen, während hinter mir eine Mordszene ablief. Ich stieß ihn trotzdem ein, zwei Mal an in der Hoffnung, er würde aufwachen.
    Er tat es nicht. Er war erschöpft und musste sich ausruhen, und selbst wenn er aufgewacht wäre, was hätten wir dann schon tun können? Wir saßen bis zum Morgen in der Nähe dieses Rasthofs fest.
    Also saß ich da und versuchte, nicht zu denken. Als das fehlschlug, sagte ich mir Multiplikationstabellen auf, was mich lediglich an die Schule erinnerte und die Frage aufwarf, ob ich jemals dorthin zurückkehren würde, und das wiederum erinnerte mich an Liz, daran, wie sehr sie Mathematik gehasst hatte, und ich fragte mich, wo sie war und wie es ihr ging und …
    Ich ging dazu über, meine Lieblingsfilmdialoge durchzugehen, aber auch das erinnerte mich nur an mein anderes Leben und an meinen Dad und daran, wie besorgt er um mich sein musste. Ich überlegte, wie ich ihm auf ungefährliche Weise eine Nachricht zukommen lassen könnte, und wurde zusehends frustrierter, als mir nichts einfiel.
    Schließlich tat ich das, was mich schon immer getröstet hatte – leise »Daydream Believer« zu singen. Es war das Lieblingsstück meiner Mutter gewesen, das Lied, mit dem sie mich in den Schlaf gesungen hatte, wenn ich einen Alptraum gehabt hatte. Ich kannte nur eine einzige Strophe und den Refrain, aber ich flüsterte die Worte vor mich hin, wieder und wieder und …
     
    »Chloe?«
    Finger berührten mich an der Schulter. Ich blinzelte und sah Derek neben mir hocken, immer noch in Boxershorts, das Gesicht finster vor Besorgnis.
    »Tut mir leid, ich bin eingeschlafen.«
    »Mit offenen Augen? Im Sitzen? Ich versuche schon eine ganze Weile, dich da rauszuholen.«
    »Oh?« Ich sah mich um und stellte fest, dass es hell war. Ich blinzelte nachdrücklicher und gähnte. »Lange Nacht gewesen.«
    »Du hast die ganze Nacht hier wach gesessen?« Er setzte sich auf den Boden. »Wegen dem, was mit mir passiert ist? Ich weiß, das war bestimmt nicht einfach, da zuzusehen …«
    »Nein, das war’s nicht.«
    Ich versuchte, weitere Erklärungen zu vermeiden, aber er bohrte weiter, und irgendwann hatte ich nur noch die Wahl, ihm die Wahrheit zu sagen oder ihn in dem Glauben zu lassen, seine Wandlung hätte mich in einen Schockzustand versetzt. Also erzählte ich ihm von dem Mädchen.
    »Es war nicht

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