Seelennoete
Forschertyp ...
Er erlaubte sich einen kurzen geistigen Abstecher und sah sich mit dem Sohn, den er hätte haben können, auf einem Boot. Fast konnte er sein Lachen hören, sein junges, waches Gesicht sehen, wenn sein Vater ihm etwas erklärte. Abernathy lenkte das Boot und spürte seinen Sohn neben sich, dessen blondes Haar im Wind wehte. Der Junge sah zu ihm auf und in seinem Blick lag Bewunderung, die seinem Vater galt. Und immer wieder waren es hellgrüne Augen, die ihn aus dem Gesicht seines Sohnes anblickten. Abernathy wischte den Gedanken beiseite. Er konnte sich keine Sentimentalitäten leisten. Sam war ein Forschungsobjekt, mehr nicht. In seinen Tagträumen hatte er nichts verloren.
„Sam“, sagte er mit eindringlicher Stimme. „Wenn ich deine Stirn berühre, dann fühlst du, dass du bei mir bleiben möchtest. Du kannst nicht allein sein. Du erträgst das Alleinsein nicht. Ich bin dein bester Freund und du vertraust mir. Du vertraust nur mir.“
Er legte den Finger wieder auf Sams Stirn.
„Ich zähle jetzt bis drei und dann wachst du auf … eins … zwei … drei.“
Sam schlug die Augen auf und blinzelte.
„Ist es schon vorbei?“, fragte er.
„Ja, das hast du hervorragend gemacht. Und, war es schlimm?“
„Nein, ich … weiß es gar nicht mehr so richtig.“
„Siehst du, alles halb so wild. Du bist schon wieder zurückverwandelt. Ich bringe dich ins Wasser, in Ordnung?“
Abernathy hob ihn von der Liege und spürte, wie Sam vertrauensvoll den Kopf an seiner Schulter ruhen ließ.
„Du wolltest mir doch noch was vorschlagen, wie dieses schlimme Gefühl weggeht … jetzt, wo wir Freunde sind“, sagte Sam.
„Ja, mein lieber Junge“, sagte Abernathy und spürte, dass er diese Worte tatsächlich so meinte. Sam legte die Hand auf Abernathys Schulter und hielt sich an ihm fest. Wieder durchströmte den älteren Mann kurz dieses Gefühl, das er so gar nicht brauchen konnte. Es fiel ihm immer schwerer, die nötige innerliche Distanz zu dem Jungen zu wahren. Aber er war kein sentimentaler Spinner, der einen millionenschweren Klunker aus Gefühlsduselei zurück ins Meer warf, wie die alte Frau von der Titanik. Und Sam war Millionen wert, wenn man es geschickt anstellte.
Er spürte Sams kühle Finger durch sein Hemd. Eine Haarsträhne kitzelte seinen Hals, als Sam den Kopf bewegte und traurig sirrte. Sofort maßregelte Abernathy sich innerlich.
Nur ein Forschungsobjekt.
„Wir müssen vielleicht bald woanders hingehen. Und ich wollte dich mitnehmen. Zumindest für ein paar Wochen. Dann kannst du Laine vergessen und der Schmerz hört bald auf. Wie findest du das?“
„Hm“, machte Sam.
Er schien müde zu sein von der Verwandlung und bestimmt spielte der Blutverlust auch eine Rolle.
„Habe ich jetzt schon Kinder gerettet?“, fragte Sam dicht an seinem Ohr.
„Schon möglich“, sagte Abernathy und stieg die Stufen zu der Metallplattform hinauf. Er legte Sam neben dem Becken ab, der benommen zu ihm aufsah.
„Und wieso müssen wir weg? Hat George uns gefunden?“
„George?“, fragte Abernathy alarmiert.
„Laines Vater“, sagte Sam.
„Laines Vater weiß über dich Bescheid?“ Abernathy spürte Adrenalin in seinen Adern. Der alte Cunnings wusste also doch von Sam. Das konnte richtig Stress geben, falls es Bill nicht gelungen war, ihm die Entführung zu verheimlichen. Der ließ sich von einer gestotterten Nachricht nicht davon abhalten, alle Bullen dieser Stadt zu mobilisieren.
„Weiß George, dass ich Laine habe?“, fragte Abernathy vorsichtig.
„Ich bin so müde“, flüsterte Sam. Er schloss die Augen.
„Sam, weiß er es?“, fragte Abernathy.
„Hm … ja“, sagte Sam.
„Kurz-lang-A. Kurz-lang-kurz-kurz-L. Kurz-lang-kurz-kurz-L. Kurz-E“, diktierte Bill.
„Industrieviertel Halle.“ George sah ihn aufgeregt an. „Mein Mädchen. Eben noch Jungpfadfinderin und jetzt das.“
„Unglaublich, Wahnsinn!“ Bills Stimme überschlug sich.
„Wirf die Suchmaschine an. Wir brauchen alle Lagerhallen da in der Gegend.“
„Ich brauche das Boot schon morgen früh, Oz. Ja … ja, ich weiß, wie spät es ist.“ Abernathy ging nervös im Wohnzimmer auf und ab und drückte sich das Handy ans Ohr. Er konnte aufgrund des Funkblockers in der Halle nur hier telefonieren. „Ist mir wurscht, was das kostet! Dann bewegst du deinen Hintern eben mal nachts aus dem Bett. Kriegst ja auch genug dafür. Ich erwarte, dass das Boot um die vereinbarte Uhrzeit
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