Seelenqual: Peter Nachtigalls zweiter Fall (German Edition)
zu beschweren. Immer öfter ging sie nicht zur Arbeit. Ihr Ausbilder rief bei mir an und wollte, dass ich mit ihr über ihr pöbelhaftes Verhalten spreche. Der Hund wurde vernachlässigt und eines Tages ließ sie ihn einfach bei mir. Was sollte ich tun? Friederike war 21 – allemal erwachsen!«
Peter Nachtigall seufzte. Jule war fast neunzehn. Vor dem Gesetz erwachsen, voll geschäftsfähig, hatte das Wahlrecht – und war eben doch manchmal erschreckend unreif, oberflächlich, ja fast verantwortungslos. Eltern blieb nichts weiter übrig als auf eine beschleunigte Hirnreifung zu hoffen.
»Ich habe auch eine Tochter in dem Alter«, erklärte er.
Sie seufzten synchron.
»Friederike war schon in der Schule sehr auffällig. Ständig wurde ich zum Klassenlehrer oder gar zur Schulleitung zitiert. Einmal hatte sie ihre Mitschüler dazu angestachelt die Unterschriften der Eltern unter schlechten Zensuren einfach zu fälschen, sie hat geschwänzt, grenzenlos provoziert. Wir hatten Ärger am laufenden Band. Es gab Phasen, in denen haben wir kaum noch miteinander gesprochen – dann herrschte das große Schweigen. Wir gingen uns aus dem Weg. Wenn ich von der Arbeit nach Hause kam, war ich froh, wenn sie in ihrem Zimmer hockte und sich nicht blicken ließ. Es ist auf die Dauer unglaublich belastend, wenn immer ein und derselbe mit immer neuen Aktionen den Familienfrieden nachhaltig stört! Und was glauben Sie, wie schnell sich die Dummheiten von Friederike hier im Wohngebiet rumgesprochen haben! Mir war ihr Verhalten peinlich und oft genug hatte ich es wirklich satt!«
»Und ihr Vater?«
»Ach, der. Der hat sie immer noch unterstützt. Meinte, Rebellion gegen das Establishment sei die wahre Tugend dieser Zeit sei und wir stolz darauf sein sollten, so eine wilde und unangepasste Tochter zu haben. Mit Friederike wurde es immer schlimmer. Sie legte ärztliche Atteste in der Schule vor, ging hier ganz normal aus dem Haus und trieb sich für den Rest des Tages irgendwo rum. So hat sie wahrscheinlich auch diese jungen Leute aus dem Park kennen gelernt.«
»Drogen?«
»Klar. Sie hat alles ausprobiert. Immer wenn ich sie nicht mehr sehen konnte, musste ich das Schlimmste annehmen.« Sie wischte sich die Tränen ab und putzte sich energisch die Nase. »Jetzt verstehe ich nicht mehr, wie ich glauben konnte, alles würde besser, wenn sie ihr eigenes Leben führen könnte! Ich hätte wissen müssen, dass sie das nicht schafft.«
»Stimmt es, dass sie an ihre neuen Freunde Tabletten verkauft hat?«
»Ja. Das stimmt. Die Jugendpsychiaterin in Berlin hatte ihr ein starkes Medikament verschrieben. Zunächst teilte ich ihr jeden Tag die entsprechende Dosis zu – doch schon bald stellte ich fest, dass sie sich mit der Begründung, ihr Stiefvater habe ihr die Tabletten weggenommen, ein neues Rezept erschlichen hatte. Später hat sie sich das Zeug von ihrem neuen Hausarzt verschreiben lassen. Ich habe keine Ahnung, wie sie das immer geschafft hat.«
»Was haben Sie unternommen, als sie davon erfuhren?«
»Nichts. Ich hörte einfach nur mit den Zuteilungen auf. Was hätte ich denn tun sollen?«
Für einen Moment war Peter Nachtigall sprachlos.
»Hätte ich sie bei Ihren Kollegen anzeigen sollen? Das hätte sie mir nie verziehen! Also tat ich lieber so, als wüsste ich nichts davon! Was hätten Sie denn unternommen?« Ihr Blick war durchdringend, herausfordernd und kalt. Doch Nachtigall wollte sich nicht auf eine Diskussion über Erziehungsmethoden einlassen.
»Was also haben Sie sonst noch getan? Die Ärztin informiert?«, er sah sie vorwurfsvoll an, als sie traurig den Kopf schüttelte. »Nur ignoriert? Das kann ich nicht glauben.«
Sie fuhr sich mit der Hand über die Augen und wich seinem Blick beinahe schuldbewusst aus.
»Losgelassen«, flüsterte sie dann. »Die meisten Eltern ihrer Mitschülerinnen hatten das längst schon getan. Sie versuchten schon lange nicht mehr irgendeinen Einfluss zu nehmen, sondern gingen lieber in die innere Emigration.«
»Das funktioniert aber nicht wirklich gut, nicht wahr?«
»Ja. Es ist eine große Lüge. Manchmal sicher bequemer als etwas zu verbieten oder auszudiskutieren. Aber im Grunde ist es nur eine Spielart der Autoaggression. Oder Masochismus.«
»Das verstehe ich nicht ganz, fürchte ich.«
»Die meisten Mütter wollen einfach nur gute Mütter sein. Sie geben sich unendliche Mühe ihre Kinder gut zu erziehen, wollen Liebe geben und Liebe bekommen. Wenn das schief geht, das geliebte
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