Seelenqual: Peter Nachtigalls zweiter Fall (German Edition)
entgangen.
»Kennen Sie jemanden, der Ihre Mutter gehasst haben könnte?«
»Sie hat die ganze Straße ausspioniert. Niemand war sicher vor ihr. Wenn jemand falsch geparkt hat, rief sie bei der Polizei an. Sie hat wirklich alles und jeden bespitzelt. Am Ende, als sie die Wohnung so gut wie gar nicht mehr verlassen konnte, hat sie nur noch am Fenster gelauert. Unter der Decke und dem Kissen das Telefon griffbereit, einen Stift und Papier. Aber das haben alle gewusst, vielleicht hat sich auch der eine oder andere mal über sie geärgert, aber deswegen bringt man doch niemanden um!«, sagte der Sohn leise.
»Ermordet – ich kann es gar nicht glauben! So ein einsamer Tod!«, schluchzte Frau Wenzel theatralisch.
»Angenommen Ihre Mutter hätte eine beunruhigende oder interessante Beobachtung gemacht, wem hätte sie das anvertraut? Ihnen, einer Freundin, einer Nachbarin?«
»Mir bestimmt nicht«, räumte Herr Markwart bedrückt ein. »Ich schäme mich fast ein wenig dafür, aber mir ging ihr stundenlanges Geschwätz über die Mieter in ihrer Straße immer unglaublich auf die Nerven. Im letzten Jahr habe ich sie genau viermal besucht. An Neujahr, an Weihnachten und zu ihrem und meinem Geburtstag. In diesem Jahr erst zweimal, weil mein Geburtstag und Weihnachten noch ausstanden. Es tut mir leid, aber ich konnte es einfach nicht ertragen.«
»Und Sie Frau Wenzel?«
»Ich habe unsere Mutter sehr geliebt. Nach dem frühen Tod unseres Vaters war sie doch der einzige Elternteil, der uns noch blieb«, sie betupfte wieder ihren Augenwinkel, was ihr einen entnervten Blick ihres Bruders einbrachte. »Aber ich wohne weit weg. In Berlin. Nach Cottbus komme ich so gut wie nie. Zu ihrem Geburtstag habe ich sie immer besucht. Und wir haben auch schon mal miteinander telefoniert. Aber selten. Immer zu Neujahr und an Weihnachten, an meinem Geburtstag. Aber sehen Sie, ich bin berufstätig und kann mir nicht stundenlang Zeit nehmen um mir den neuesten Mieterklatsch anzuhören. Zeit ist Geld!«
Peter Nachtigall spürte ein leichtes Ziehen im Magen. War das nicht immer häufiger so? Die Menschen lebten einsam und sie starben einsam. Diese Frau Markwart war von ihren Kindern einfach ausgeklammert worden. Nur noch an den fixen Festtagen im Jahr erinnerte man sich aneinander – und selbst dann war der obligatorische Besuch eine unangenehme Last. Laut sagte er:
»Na ja, so weit weg ist Berlin nun auch nicht. Nur anderthalb Stunden mit der Bahn. Aber Sie sind eine vielbeschäftigte Frau, das habe ich schon verstanden. Ihre Mutter war demnach ziemlich einsam.«
War das ein betretener Blick, den die Geschwister tauschten? Nachtigall war sich da nicht so sicher.
»Ihre Freundinnen sind zum größten Teil schon verstorben. Und neue lernt man in dem Alter kaum noch kennen, vor allem wenn man die Wohnung nicht mehr verlassen kann. Meiner Meinung nach, war nur diese Schwester vom Pflegedienst jemand, dem sie sich anvertraut haben würde«, ließ der Sohn ihn wissen. Die Tochter nickte eifrig dazu.
Die beiden wollen dringend hier raus, stellte Nachtigall fest, wie schade, dass ich nicht hören kann, was sie besprechen, sobald sie die Bürotür hinter sich geschlossen haben. Gedankenverloren strich er mit der rechten Hand über den Oberarm und fand die dubiose Stelle. Hautkrebs? Ein malignes Melanom? Schnell verdrängte er die Bedenken und nahm die Geschwister wieder ins Visier.
»Besaß Ihre Mutter ein Handy?«
Beide schüttelten den Kopf.
»Sie hatte ein schnurloses Telefon. Wichtige Rufnummern waren auf Kurzwahltasten gespeichert: Der Arzt, die Schwester, die Polizei, wir. Das Ding hatte sie immer bei sich. Nachts legte sie es auf die Ladestation neben ihrem Bett, damit es für den kommenden Tag wieder einsatzbereit war«, erklärte Manfred Markwart. »Sie war praktisch immer zu Hause.«
»Wo waren Sie gestern Nachmittag – so gegen drei Uhr?«, fragte Nachtigall und sah von einem zum anderen.
»Ich war in meiner Boutique und hatte ein Gespräch mit einem Vertreter meiner Hausbank. Herr Höffgen von der Sparkasse. Moment –«, sie nestelte an ihrer Handtasche herum, »hier habe ich sogar seine Visitenkarte.«
Nachtigall legte die kleine Karte vor sich auf den Schreibtisch.
»Ich war zu Hause. Am Nachmittag gucke ich gerne Sport. Leider war bei mir kein Banker, der mir eine Visitenkarte dagelassen hätte.«
Die Tür zum angrenzenden Büro wurde aufgerissen und Michael Wiener stürmte herein. Verdutzt bemerkte er die Gäste in
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