Seelenqual: Peter Nachtigalls zweiter Fall (German Edition)
tätschelte die alte Dame ihren Unterarm. »Weinen reinigt die Seele. Glauben sie einer alten Frau. Es ist viel besser sie laufen zu lassen, als sie zu unterdrücken. Und«, lächelte sie schelmisch und griff in die Tasche ihrer voluminösen Jacke, »Taschentücher habe ich auch mitgebracht.«
»Konnte man es denn mit Friederike als Mieterin hier aushalten, oder haben alle unter ihr so gelitten, wie die Dame von gegenüber?«
»Oh, Frau Junghans! Sie hat also mit Ihnen über Ihre Tochter gesprochen. Nein, nein, lassen Sie es mich mal so ausdrücken: Manch einer macht aus seinem Leid auch eine Leidenschaft. Aber es ist schon wahr: So richtig beliebt war Ihre Tochter bei den meisten Mietern nicht. Wissen Sie, das soll uns jetzt nicht kümmern.«
»Ich war nur wenige Male hier – und da hat sie mich gar nicht in die Wohnung gelassen. Sie hat mich an der Tür abgefertigt wie einen Staubsaugervertreter«, schniefte Frau Weinreich.
»Das hat Ihnen wehgetan, meine Liebe, nicht wahr? Oh, ich verstehe das gut.«
Dankbar trank Friederikes Mutter von dem starken Kaffee. Seltsamerweise tröstete er sie.
»Ich habe gehört, gestern ist noch jemand hier in der Straße gestorben?«
»Ja, ja. Die alte Frau Markwart. Sie war schon lange krank. Komischerweise hat die Polizei ihre Wohnung versiegelt. Ich wusste gar nicht, dass sie das immer machen. Im Fernsehen kleben sie nur bei Gewaltverbrechen oder so was ein Siegel an die Tür. Na jedenfalls waren vorhin ihre Kinder da und wollten in die Wohnung. Als die gesehen haben, dass das nicht ging, gab es wohl ein ganz schönes Gezeter im Haus. Besonders die Tochter hat ein ziemlich unangenehmes Organ«, Frau Gutmann lachte leise.
»Die Polizei hatte hier ja auch versiegelt. Aber nun sind sie mit der Sicherung ihrer Spuren fertig und haben mir erlaubt alles abzuholen. Wenn ich mir das so ansehe, muss es wohl eine wilde Party gewesen sein.«
»Ja, Friederike hat gerne gefeiert. Das ist doch schön! Es ist ein Zeichen der Lebenslust. Junge Menschen haben ein Recht auf Freude am Leben, finde ich. Trübsalblasen ist was für Ältere und holt uns in aller Regel früh genug ein.«
»Vielleicht haben Sie recht. Später jammern wir über verpasste Chancen.«
»Wissen Sie, Ihre Tochter hat vor irgendetwas Angst gehabt. Sie fing an die Vorhänge zuzuziehen, wenn sie nach Hause kam, ich habe auch gehört, dass sie immer zweimal abgeschlossen hat, als glaube sie, jemand käme ungebeten zur Tür herein. Selbst jetzt, als es so heiß war, hat sie die Terrassentür nie offen gelassen – nur die große Tür angekippt und einen Stuhl davor gestellt.«
»Sie hat sich öfter mit gewalttätigen Menschen angelegt. Vielleicht hatte einer ihr gedroht, er käme vorbei«, mutmaßte Frau Weinreich und schämte sich dafür, so wenig vom Leben ihrer Tochter gewusst zu haben. »Sie hat sich mir nicht anvertraut«, fügte sie flüsternd hinzu.
»Das tun viele Mädchen in diesem Alter nicht mehr. Gut, manche schon. Die, die es früher schaffen aus dem Irrgarten der Pubertät herauszufinden. Die anderen verachten ihre Eltern und behalten alles für sich, weil sie glauben, sie kämen schon allein mit ihren Problemen klar. Das ist nichts, wofür sich eine Mutter, die ihr Kind liebt, entschuldigen müsste.«
Eine Mutter, die ihr Kind liebt, hallte es in Frau Weinreichs Kopf nach – war sie das? Hatte sie Friederike wirklich noch geliebt?
»Ich erzähle Ihnen das nicht, um sie auf ein Versäumnis ihrer Tochter gegenüber aufmerksam zu machen«, bohrte sich die freundliche Stimme von Maria Gutmann in ihr Bewusstsein. »Ich erzähle Ihnen das, weil ich sie warnen möchte. Sollte Friederike wegen Schulden bedroht worden sein, oder weil sie etwas wusste oder hatte, was ein anderer besitzen wollte, wären Sie ab jetzt genauso gefährdet! Verstehen Sie?«
Frau Weinreich sah in die lieben Augen der alten Dame und fröstelte. Vielleicht sah Frau Gutmann zu viele Krimis im Fernsehen? Oder sie hatte tatsächlich recht und sie würde die Bedrohung nun mit in ihre Familie tragen?
41
In dem kleinen Raum saßen die vier bestellten Zeugen dicht um einen der Schreibtische gedrängt. Sie vermieden jeden Blickkontakt.
»Was für eine Frechheit uns hier so lange warten zu lassen! Was bilden die sich eigentlich ein! Ich habe schließlich noch etwas anderes zu tun. So langweilig, dass ich meine Zeit etwa totschlagen müsste, ist es mir nie!«, schimpfte Frau Peters vor sich hin. Als niemand antwortete, senkte sie den Kopf
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