Seelenqual: Peter Nachtigalls zweiter Fall (German Edition)
großen, stämmigen Wasserstoffblondine durch den Gang. Ihr enganliegendes rotes Designerkostüm und die hohen Absätze wirkten vor den Büros der Kriminalpolizei reichlich deplatziert. Bei jeder Bewegung klirrten die dicken Goldarmbänder, die sie an ihren kräftigen Unterarmen trug.
Die langen, roten Fingernägel klackten nervös auf der ebenfalls roten Lacklederhandtasche.
Aus ihren wässrigen, blauen Augen warf sie ihrem Bruder einen wütenden Blick zu und verzog missbilligend den breit geschminkten Mund.
»Dir macht das natürlich gar nichts aus!«, fauchte sie ihn an. »Du hast alle Zeit der Welt! Ein Hartz-IV-Empfänger braucht sich da wohl keine Gedanken zu machen, wie?«
Der Angesprochene schien unter ihren Worten zusammenzuschrumpfen und sah verlegen auf seinen abgetragenen Anzug hinunter. Seine Hände waren schwielig und verdreckt, sein schütteres Haar vom Schweiß fest an den Kopf geklebt.
»Mein Gott!«, fuhr sie ihn an. »Wie kann man sich nur so gehen lassen! Wie du nur aussiehst! Deine Schuhe! Dieser Anzug! Indiskutabel! Und überhaupt, wann hast du eigentlich das letzte Mal geduscht?«
Sie sprang auf und begann auf dem Gang hin und her zu stöckeln. Eine Welle von süßlichem Parfum hüllte ihn ein und nahm ihm den Atem.
Sicher war seine Schwester in allen Räumen deutlich zu hören.
Sie war ihm mindestens so peinlich, wie er ihr, erkannte er plötzlich. Wir haben nichts gemeinsam. »Erst klingelt mich die Polizei aus meiner Abendmeditationsgruppe, um mir mitzuteilen, ich sei nun eine Vollwaise, meine Mutter überraschend gestorben, ein Verbrechen nicht auszuschließen. Man bestellt mich hierher, weil diese hysterische Schwester vom Pflegedienst was von unklaren Todesumständen faselt. Und nun kann ich hier rumstehen und warten, bis man mal ein wenig Zeit für mich hat. Mutter ist tot!« Mit einer affektierten Bewegung schüttelte sie ein blütenweißes Stofftaschentuch auf und tupfte sich damit imaginäre Tränen aus dem linken Augenwinkel. Dabei schluchzte sie theatralisch.
»Hör schon auf damit.«
»Womit?«
»Mit deinem Trauerspiel. Du hast Mutter doch schon seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen.«
»Aber du, ja? Du hast dich als liebender Sohn ständig um sie gekümmert, nicht?«, fuhr sie ihn an und schob mit beiden Händen ihre aufgeplusterte Frisur wieder zurecht.
»Nein. Das habe ich nicht behauptet. Ich zieh hier nur nicht so eine peinliche Show ab!«
»Aha!«, schnappte sie und sah an ihm vorbei.
»Ich glaube, Mutter hat gar niemanden mehr zum Quatschen gehabt. Nur diese blöde Schwester vom Pflegedienst, der wir nun das ganze Drama verdanken.«
»Nein. Sie hat gerade im Sommer immer am Fenster gehockt und jeden angesprochen, der vorbeikam. Ehrlich gesagt denke ich, in der Straße wird man wohl jetzt aufatmen. Als ich das letzte Mal mit ihr telefoniert habe«, er fing den funkelnden Blick seiner Schwester auf, »ja, ja, ist schon ’ne ganze Weile her, da hat sie mir erzählt, dass sie wieder ein paar Leute angezeigt hat. Wegen Falschparkerei. Mit so jemandem kann man nur schwer ein entspanntes, gutnachbarliches Verhältnis pflegen, nicht?«
»Als ich«, sie betonte das Personalpronomen besonders deutlich, »das letzte Mal mit ihr telefoniert habe, was nur ein paar Wochen her ist, Bruderherz«, ihre Stimme troff vor Falschheit, »hat sie mir erzählt, dass du sie schon wieder angeschnorrt hast! Du bist so ein Widerling!«
»Ich bin kein Widerling – ich bin arbeitslos!«
»Du bist ein alkoholabhängiger Spieler!«
Wütendes Schweigen bildete eine Mauer zwischen den beiden. Jeder starrte vor sich hin. Unvermittelt nahm die Frau das Umhergehen wieder auf.
»Mag sein, dass ich ein kleines Problem mit dem Alkohol habe. Aber wenn schon! Dich jedenfalls geht es gar nichts an!«, zischte er sie an, als sie zum wiederholten Mal an ihm vorbeistolzierte.
»Oh, doch! Das geht mich sehr wohl etwas an! Eine ganze Menge sogar! Schließlich werden wir wohl gemeinsam erben – und wenn du schon vorher jede Menge abgezweigt hast, werde ich dir das von deiner Hälfte abziehen!« Sie bückte sich und brachte ihr Gesicht so nah an seines, dass ihre Nasen sich beinahe berührten. »Und das werde ich ganz genau prüfen. Da kannst du aber sicher sein.«
»Erst einmal müssen wir uns Gedanken über die Beerdigung machen. Da ich kein Geld habe, werden wir es wohl gemeinschaftlich vom Erbe bezahlen, oder wolltest du, als liebende Tochter, die Sache etwa allein finanzieren?«
»Nein.
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