Seelenraub
die Person aus ihrem Grab. Wie du selbst weißt, ist der Schmerz unvorstellbar.«
Die Leidenschaft in seiner Stimme verriet ihr, dass eine persönliche Erfahrung dahintersteckte. »Ist dir das passiert?«
Mort senkte den Blick und musterte seine Teetasse. »Mit meiner Frau. Sie war erst fünfundzwanzig, als sie starb, und eine Woche später war sie als Dienstmädchen in einem reichen Haushalt hier in Atlanta. Ich habe sie manchmal auf der Straße gesehen.« Er holte gequält Luft. »Dann sind sie nach New York City gezogen, und ich konnte es mir nicht leisten, ihnen zu folgen.«
»Könnte der Besitzer meines Dads das auch machen?«, fragte sie entsetzt.
»Es verstößt nicht gegen das Gesetz, einen Wiederbelebten über die Staatsgrenze zu bringen, zumindest noch nicht. Genauso wenig, wie es verboten ist, ihn weiterzuverkaufen.«
»Hast du deine Frau zurückbekommen?«
»Erst, als ihr Jahr um war«, erwiderte er, die Stimme von Emotionen gebrochen. »Aber da war sie nur noch … eine Hülle.«
Gott
. Es war schon scheußlich genug, jemanden zu beerdigen, den man liebte, aber sie so zu sehen und keine Chance zu haben, ihnen zu helfen, verlieh dem Begriff Hölle eine ganz neue Bedeutung.
»Darum wurde ich Totenbeschwörer«, gab er zu. »Im Fall deines Vaters werde ich in der Gesellschaft eine Untersuchung wegen unautorisierter Beschwörung veranlassen«, sagte er. »Inoffiziell höre ich mich ein wenig um, ob irgendjemand weiß, wer ihn hat auferstehen lassen.«
»Wenn ich ihn von seinem Käufer wegbekomme, wer immer es auch sein mag, kannst du meinen Vater dann wieder unter die Erde bringen?«
»Den Bann brechen?« Mort stieß einen leisen Pfiff aus. »Damit handelt man sich massiven Ärger ein. Vor ein paar Jahren hatten wir eine magische … Fehde, als zwei Beschwörer ständig bei den Wiederbelebungen des anderen dazwischenfunkten. Es war ein schlechtes Geschäft.«
»Also kannst du nichts weiter tun, als Fragen zu stellen?«, fragte sie, schärfer als beabsichtigt.
»Ich kann nicht mehr tun, Riley. Dein Vater hat keinerlei Bürgerrechte«, erklärte Mort. »Wenn die Zeit kommt, dass er wieder beerdigt wird, brauchen wir die Hilfe seines Beschwörers, um den Bann aufzuheben. Wenn dieser Beschwörer auf dich wütend ist …« Er hob die Hände.
»Was passiert, wenn mein Dad nach einem Jahr nicht in sein Grab zurückkehrt?«
»Der Körper zerfällt, während das lebendige Bewusstsein noch darin ist. Und das will niemand erleiden – weder er noch du.«
Die Kekse lagen ihr plötzlich schwer im Magen. »Du meinst also, dass ich so gut wie keine Chance habe?«
»Nein.« Er seufzte. »Ich meine, dass du nicht viele Möglichkeiten hast, aber das sollte dich nicht davon abhalten, ihn zu finden. Wenn diejenigen, die ihn gekauft haben, Mitgefühl haben, erlauben sie vielleicht, dass du ihn während seiner Dienstzeit besuchst.«
»Als wäre er im Knast oder so«, sagte sie. Was für ein deprimierender Gedanke. »Gibt es irgendeinen Ort, wo sie verkauft werden, außer auf dem Markt?«
»Ja«, sagte ihr Gastgeber. Er spielte mit seinem halbaufgegessenen Keks herum. »Ich gehe zur Lizitation und schaue nach, ob er dort ist.«
»Zur was?«
»Zur Lizitation. Das Wort kommt aus dem Lateinischen und bedeutet ›Auktion‹. Die nächste findet Freitagabend statt.«
»Ich will mitkommen.«
Sofort schüttelte er den Kopf. »Du wärst nicht willkommen.«
»Das ist mir egal«, sagte sie und schob ihre Teetasse beiseite. »Ich will dabei sein.«
Morts Augenbrauen berührten sich fast. »Meine Kollegen sind ein reizbarer Haufen. Sie sähen es gar nicht gern, wenn du Fragen stellen würdest.«
»Ich will dahin«, wiederholte Riley. Dann probierte sie es mit dem Zauberwort. »Bitte.«
Mort seufzte. »Also gut, aber sei dir klar darüber, dass es ungemütlich werden könnte.«
Nur, wenn ich meinen Vater nicht finde.
Als Riley die Gasse hinunter zur Hauptstraße ging, versuchte sie, ihre stürmischen Gefühle in den Griff zu bekommen. Hatte sie wirklich geglaubt, dass sie nur mit Mort zu reden bräuchte, und alles käme wieder in Ordnung? Dass ihr Dad auf sie wartete, bereit, in sein Grab zurückzukehren? Falls sie ihren Vater fand und der Beschwörer den Bann zurücknahm, würde sie ihn erneut begraben müssen. Noch eine Beerdigung.
O Gott.
Als sie an den Briefkästen vorbeikam, erweckte eine Person ihre Aufmerksamkeit, ein Junge, der etwas an die Steinmauer vor ihr sprayte. Er war etwa dreizehn Jahre alt,
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