Seelensplitter: Thriller (German Edition)
dass Sven ohnehin weiter in Linas Vergangenheit herumwühlt. Sven hat eine Rechnung mit ihr offen, und sie weiß, dass er diese Chance nicht auslassen wird. Möglich, dass er immer noch darauf spekuliert, dass sie in ihrer Not kapitulieren und ihm die Tür öffnen wird. Linas größte Sorge ist, dass er irgendwann auf ihren toten Bruder kommen wird, und das darf nicht passieren. Mord verjährt nicht. Auch wenn ein kleines Mädchen die Mörderin ist. Schlimmstenfalls würde sie aufgrund ihrer sonstigen psychischen Verfassung sogar in eine psychiatrische Anstalt eingewiesen.
Sie hat keine Ahnung, was für ein Spiel Astrid treibt. Astrid ist Beamtin. Sie weiß, wie sie an Informationen kommen kann. Wenn Astrid die Abschiedsworte nicht geschrieben hat, muss da jemand im Hintergrund die Fäden ziehen. Ein Monster, das sehr wohl menschliche Gestalt hat.
Lina hat die U-Bahn genommen. Sie schaut aus dem Fenster und lässt den Hafen mit seinem geschäftigen Treiben vorbeiziehen. Barkassen schaukeln übers Wasser, ein Containerschiff wird von Schleppern zu einem der Entladekais gezogen. Die ersten Touristen spazieren an der Hafenpromenade entlang und genießen die Sonne. Ein historischer Dampfer bläst eine schwarze Rauchwolke in den Himmel.
An der Station Baumwall steigt Lina aus.
In einer der Gruppensitzungen hatte Carolin erzählt, dass ihr Freund im Miniaturwunderland als Modellbauer arbeitet. Lina geht über den Kehrwiedersteg und passiert die Front der alten Speicher. Werbe- oder Eventagenturen und Computerfirmen wechseln sich mit Cafés und den letzten verbliebenen Lagergesellschaften ab. Schließlich erreicht sie das Miniaturwunderland und stellt sich hinter einer Schulklasse an.
Die etwa zehnjährigen Kinder sind um diese späte Vormittagsstunde in Höchstform. Die überforderte Lehrerin versucht eine Prügelei zu verhindern, indem sie einen rothaarigen Streithahn ans Ende der Schlange strafversetzt.
Herausfordernd sieht er jetzt Lina an, die unwillkürlich einen Schritt zurückweicht, weil sie einen Tritt gegen ihr Schienbein befürchtet. Doch der Junge reagiert seine Wut an einer leeren Coladose ab und kickt sie in Richtung der Lehrerin, die sich gerade einem Mädchen zuwendet.
Eine halbe Stunde später kauft Lina am Besuchertresen eine Eintrittskarte und geht durch das Drehkreuz. Kurz überlegt sie, schon an der Kasse nach Patrick Kelmes zu fragen, entscheidet sich aber dann doch dafür, zuerst die Anlage zu besichtigen, die als größte Modelleisenbahn der Welt gilt.
Sie geht vorbei an Vitrinen mit Merchandising-Produkten und entdeckt eine dem Schweizer Bergland nachempfundene Modelllandschaft. Daran schließt ein unglaubliches Gewirr aus Straßen und Schienen an, die unterschiedlichste Gegenden und realistisch und minutiös nachgebildete Städte und Dörfer durchkreuzen. Hier werden kleine Szenen dargestellt, Demonstrationen streikender Arbeiter, Menschen im Freibad oder auch ein Flughafenareal mit startenden und landenden Maschinen. In Ministraßenzügen flanieren Figürchen, shoppen oder essen Eis.
Nach einer Viertelstunde wird der Raum langsam für das Nachtprogramm abgedunkelt. Mit Beginn der Dämmerung werden die Lichter der Busse, Personenwagen, LKWs, Straßenlaternen, Häuser und Lokomotiven eingeschaltet, und eine Minifeuerwehr rast zu einem Schloss, in dem ein Feuer ausgebrochen ist.
Staunend stehen Kinder und Erwachsene davor und tauchen in diese Miniwelt ein, in der alles seinen Weg findet und offenbar noch seine Ordnung hat.
Lina bleibt vor dem Modell eines Gefängnisses stehen, in dem die Insassen auf Knopfdruck zu einem Spaziergang in den Innenhof aufbrechen. Dann schlendert sie hinüber zur Nachbildung eines Fußballstadions, in dem sogar die Blitzlichter der fotografierenden Fans nachgestellt werden.
Für ein paar Stunden in eine Welt eintauchen, die nach festen Regeln funktioniert und die man sich von oben ansehen kann. In der man mit ein paar Schritten aus der einen in die andere Landschaft gehen kann, aus dem einen Leben in das andere.
Wenn es einen Gott gibt, so kann man die Welt hier durch seine Augen sehen. Und ein wenig spüren, wie es ist, wenn man von oben auf das hinunterblickt, was die einen Schöpfung und die anderen Chaos nennen.
Lina findet einen Durchgang zu einem der Nebenräume, in dem in Glasvitrinen historische Eisenbahnmodelle aufbewahrt werden. Sie spricht eine junge Frau an, die laut Abzeichen auf ihrem Sweatshirt hier arbeitet. Als Lina den Namen »Patrick
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