Seelensplitter: Thriller (German Edition)
einzige Frauengeschichte. Einmal. Ich war betrunken, es war ein absoluter Ausrutscher. Und dann geh ich Idiot am nächsten Morgen zu ihr und beichte. Ich bin so ein Idiot!«
»Nur einmal?«, fragt Lina, und ihre Skepsis ist deutlicher herauszuhören, als sie das beabsichtigt hat.
»Nur einmal. Ich weiß, sie hat geglaubt, dass … aber das ist Unsinn. Es war nur einmal.«
»Und die Wohnung, in der sie gewohnt hat?«
»Ist die Bude von einem ihrer Freunde, der im Ausland ist, ein gewisser Kostja irgendwas. Der weiß noch gar nicht, was passiert ist. Ich würde mich da gern mal umsehen. Wie sie so gelebt hat und so.«
»Da müssten Sie die Mordkommission fragen«, sagt Lina.
»Die Mordkommission?«, fragt Kelmes.
Seine Überraschung ist echt. Er geht offenbar davon aus, dass Carolin sich umgebracht hat.
»Sie wurden aber schon von meinen Kollegen befragt?«, sagt Lina.
»Ja, aber ich hab gedacht, das ist Routine. Wurde sie denn …«
Lina erklärt ihm, dass sie sich dazu nicht äußern darf.
Patrick Kelmes sieht sie irritiert an und fragt: »Sie hat sich nicht selbst …?«
»Darüber müssen Sie wirklich mit Sven Emmert von der Kriminalpolizei reden.«
Lina hinterlässt ihre Visitenkarte für den Fall, dass ihm noch etwas einfallen sollte. Ohne ein Wort zu sagen, nimmt er die Karte.
Lina spürt, dass er ihr hinterhersieht.
Sie dreht sich noch einmal um und fragt: »Was ist eigentlich mit Ihrem Finger passiert?«
»Nichts.«
»Sieht aus, als wäre er …«
»Das glauben Sie mir ebenso wenig wie Ihre Kollegen.«
»Arbeitsunfall?«
Der Mann winkt müde ab und wendet sich wieder seinen Modellen zu.
»Nun kommen Sie schon. Was ist passiert?«
»Ein Einbruch. Jemand hat mir im Schlaf den Finger abgeschnitten.«
»Einbruch?«, fragt Lina.
»Ist durch die Terrassentür rein und hat mir den Finger abgeschnitten. So wie es aussieht mit einer Gartenschere. Ich hab zu spät reagiert. Der Typ ist abgehauen.«
»Sie konnten ihn nicht festhalten?«, fragt Lina ungläubig.
»Ich hatte was getrunken«, sagt Patrick Kelmes.
»Könnte das Carolin …?«
»Unsinn. Dazu wäre sie niemals fähig.«
»Finger kann man wieder annähen«, sagt Lina.
Patrick Kelmes nickt.
»Er hat ihn mitgenommen. Wie eine Trophäe. Einfach mitgenommen.«
Lina macht sich auf den Heimweg. Im Gehen ruft sie Alex an. Sie muss ihn heute noch treffen.
Die Freistellung vom Dienst löst Trostlosigkeit in ihr aus. Plötzlich keine Aufgabe, kein Rhythmus mehr. Damit konnte sie noch nie gut umgehen. Aus diesem Grund hat sie früher nie die Schule geschwänzt und insgesamt nur drei Mal wegen fiebriger Erkältungen gefehlt.
Eine Stunde später ist sie zu Hause. Sie war bis jetzt das Gefühl nicht losgeworden, dass jemand sie verfolgt hat. Sie kennt dieses Gefühl und weiß, dass sie aufpassen muss, um nicht in einen ausgewachsenen Verfolgungswahn zu kippen.
Lina stellt einen Küchenstuhl auf den Balkon, setzt sich, steckt sich eine Zigarette an und inhaliert tief. Die Sonne wärmt ihr Gesicht, und der abendliche Verkehrslärm entspannt sie.
Sie widersteht dem Impuls, auf die Straße hinunterzusehen und nach Kollegen von Sven Ausschau zu halten, die sie möglicherweise observieren. Was sollten sie auch schon groß beobachten? Verdächtige Person sitzt auf ihrem kleinen Balkon und raucht eine Zigarette. Ende des Observationsprotokolls. Am Morgen war sie momentelang davon überzeugt, dass sie von gegenüber aus einem Auto beobachtet wurde, doch dann stieg eine Frau mit Einkaufstüten ein, und es fuhr davon. Letzten Endes spielt es keine Rolle, ob man sie observiert oder nicht. Sie muss bei ihrer Strategie bleiben: nicht auffallen. Nicht zu demonstrativ Ruhe zur Schau stellen. Sven ist nicht dumm.
Die Uhr zeigt halb sechs, als sie sich eine Jeansjacke überzieht, ihr Portemonnaie einsteckt und ihre Wohnung verlässt. Auch diesmal vermeidet sie es, den Handlauf in dem verschmutzten Treppenhaus zu berühren.
Hinter der Scheibe des Tattooladens sitzen vier Kunden und stöbern in Motivkatalogen, unter ihnen auch ein spät entschlossener Herr um die sechzig. Ob es eine HSV-Raute, ein Drache oder eine Schmuckverzierung werden soll – sein Gesicht verrät einen geradezu kindlichen Stolz darauf, sich durchgerungen zu haben. Geschichten, denkt Lina, was geht mich das an.
Sie geht in den Thai-Imbiss nebenan, sagt zur Begrüßung »Sawasdee kar«, nimmt sich ein Singha-Bier aus dem Kühlschrank und erklärt der freundlichen Kellnerin, sie warte
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