Seelensplitter: Thriller (German Edition)
Hand auf Linas Arm. »Kann ich Ihnen helfen? Soll ich die Polizei rufen?«
Sie zieht ein Handy aus ihrer Handtasche.
Lina schüttelt den Kopf. Sie spürt den Schweiß auf ihrer Stirn, ihr Herz rast wie wild.
»Setzen Sie sich erst mal hin«, sagt die Frau und schiebt sie sanft zu einer Bank. »Ich weiß nicht, worum es in Ihrem Telefonat ging, aber vielleicht ist es ja alles gar nicht so schlimm.«
Lina setzt sich.
Plötzlich erscheint ein grell leuchtendes Bild vor ihr.
In dem Leuchten sieht sie ganz deutlich einen toten Jungen.
14
W as um Himmels willen ist mit Astrid passiert? Wer ist in ihre Wohnung eingedrungen? Was hat man ihr angetan? Oder hat Astrid etwas herausgefunden und einen Angriff auf sich vorgetäuscht? Nein, dazu klang das viel zu bedrohlich realistisch.
Das Kabel. Wer weiß über das Kabel Bescheid? Und darüber, was Lina mit diesem Kabel getan hat? Ist es eine Botschaft an sie gewesen?
Lina sitzt am Kanal. Stehendes Wasser. Nur ein paar Blasen blubbern an die Oberfläche, aufgestiegen aus den am Grund verlegten Plastikröhren, die den kümmerlichen Restbestand an Fischen mit Sauerstoff versorgen.
Erinnerungen kommen plötzlich von ganz tief unten an die Oberfläche.
Die Zeit, als sie damals in die Pflegefamilie kam. Alles war neu für sie. Sie erinnert sich an die Tischglocke, die regelmäßig zu den Essenszeiten geläutet wurde. An neue Kleider, ein eigenes Zimmer mit rosa Tapeten, Puppen. Dabei hatte sie vorher nie mit Puppen gespielt. Jedenfalls kann sie sich nicht daran erinnern.
Die Katze, die nachts in ihr Bett sprang und schnurrte. Sie kam und legte sich ganz selbstverständlich zu ihr. Lina hatte sie vorsichtig gekrault. Die Katze hatte sich auf den Rücken gedreht und sich ausgestreckt. Lina hatte sie sofort ins Herz geschlossen.
»Das ist nicht deine Katze!«
So hatte Ralf, der Sohn der Familie, die Schlacht eröffnet.
»Du bist nicht meine Schwester, und du wirst es auch nie werden! Verstehst du?«
»Kann ich nicht deine Freundin sein?«, hatte sie ihn gefragt.
»Nur über meine Leiche«, hatte er zur Antwort gegeben.
Er hatte Recht behalten. Aber das wusste er damals nicht.
Ralf begann, die Katze zu quälen. Er zog sie am Schwanz, umwickelte ihn mit Klebeband und riss ihr die Haare damit aus. Die Katze suchte bald das Weite, sobald er Linas Zimmer betrat. Er lachte nur selbstgefällig und meinte, das Tier habe eben Respekt vor ihm, und das sei gut so.
Ihre Pflegeeltern bekamen von alldem nichts mit.
Lina nannte ihre neuen Eltern Mama und Papa, und sie mochten das. Sie lächelten sie an. Auch Ralf lächelte, wenn er es hörte, doch er sah sie an mit einem Blick, der so viel hieß wie »du wirst schon sehen«.
Die Katze suchte Linas Nähe, sie ließ sich von ihr bürsten und kraulen, und Lina liebte sie über alles.
Genau das nutzte Ralf aus.
»Die Katze gehört dir nicht«, sagte er immer wieder und scheuchte das Tier durch die Zimmer, wenn ihre Pflegeeltern es nicht mitbekommen konnten.
Eines Nachmittags waren sie und Ralf über mehrere Stunden allein in der Wohnung. Ralf hielt zwei Dosen hoch, die er mit einem Faden zusammengebunden hatte.
»Die Katze und du, ihr werdet jetzt heiraten«, verkündete er. »Bei einer Hochzeit bindet man sowas hinten dran.«
Damit meinte er den Schwanz der Katze. Er machte sich auf die Jagd, verfolgte sie. Sie flüchtete unter das Bett, er stocherte mit einem Besenstiel nach ihr, sie sprang auf den Schrank, er holte einen Stuhl. Mit einem gewaltigen Satz flog die Katze herunter und versuchte, sich in der Küche in Sicherheit zu bringen. Lina rannte hinterher und öffnete das Küchenfenster, weil sie gehört hatte, Katzen könnten aus dem ersten Stock springen, ohne sich zu verletzen. Doch statt in die Freiheit zu flüchten, versteckte sich die völlig verängstigte Katze hinter dem Herd.
Verärgert gab Ralf seine Jagd schließlich auf und verzog sich ins Wohnzimmer, um fernzusehen.
Die Frau, die jetzt Linas Mutter war, hatte ihnen etwas zu essen in den Kühlschrank gestellt. Damit lockte Lina die Katze hinter dem Herd hervor. Sie nahm einen Plastikeimer aus dem Küchenschrank, warf etwas von dem Essen hinein, setzte die Katze dazu und stülpte einen Deckel darüber. Sicherheitshalber wickelte sie noch eine Wäscheleine darum und trug dann den Eimer in den Keller. Sie wollte die arme Katze wenigstens für kurze Zeit vor Ralfs Quälereien beschützen und ihr die Chance geben, sich auszuruhen.
Später, als sie in der Küche
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