Seelensplitter: Thriller (German Edition)
sonst wem beweisen, was für ein Held er ist. Er lässt sie nicht aus der Tür, nur weil sie die beleidigte Leberwurst spielt.
»Also«, sagt Sven. »Welchen Grund könnte sie gehabt haben, in alten Unterlagen über dich herumzuwühlen? Erst dachte ich, dass du sie um diesen Gefallen gebeten hast. Also, warum interessiert sie sich für deine Pflegefamilie und die Adoptionspapiere?«
»Weil sie verliebt ist in mich?«, sagt Lina, zuckt mit den Achseln und lässt Sven allein in der Wohnung zurück.
W enn ich Angst habe, stecke ich sie in den Beutel der Dummheit. Er hängt neben meinem Bett. Am Kopfende. Die Rote weiß nichts davon.
»Unser Geheimnis«, sagt der Weiße Drache aus dem Schrank.
»Aber es wird wieder wehtun!«
»Pack die Schmerzen in den Beutel der Dummheit«, sagt der Weiße Drache. »Denk nicht darüber nach. Und jetzt geh.«
»Wohin denn?«
»Hörst du ihn denn nicht, Dummchen? Er liegt in der Badewanne und ruft dich. Geh.«
»Aber dann kannst du mich nicht sehen, mich nicht beschützen.«
»Freu dich. Die Wanne ist zu klein für die Rote.«
»Kannst du nicht durch das Schlüsselloch sehen?«
»Ich bin wie der Beutel der Dummheit. Er ist immer da. Ich bin immer da. Denk an die Kreise auf deinem Rücken. Wenn du es in den Mund nehmen musst, dann denk an die Kreise. Und dass es nur Schaum ist. Schaum, der klebt. Und bitter schmeckt. Und dann wirfst du das Bittere in den Beutel der Dummheit. Schlucke es nicht hinunter. Davon bekommt man Kinder.«
13
E rst am frühen Morgen war Lina eingeschlafen und hatte sich gegen Mittag aus dem Bett geschält. Ohne Kaffee und Frühstück war sie zum Hafen gefahren.
Sie schaut jetzt vom Anleger aus aufs Wasser. Der Wind bläst ihr kalt ins Gesicht, und sie knöpft sich die Jacke zu.
Eine Tatverdächtige, die in mich verliebt ist, das wird ihn antörnen, denkt sie, und wenn er angetörnt ist, dann wird er unvorsichtig. Sie stellt sich vor, wie er in seinem Büro mit dem Bleistift auf den Tisch klopft und mit den Kollegen einen Lesbenmord zusammenfantasiert, der Dildo, ha, ha, dass wir da nicht früher darauf gekommen sind …
Die Kamera liegt nicht grundlos in Carolins Wohnung. Unwahrscheinlich, dass sie dem verreisten Wohnungsinhaber gehört. Der hätte sie sicher weggeräumt. Was wurde in der Wohnung gefilmt?
Und warum schnüffelt Astrid in ihrer Vergangenheit herum, warum hat sie ihr kein Wort davon gesagt, nicht mal eine Andeutung gemacht?
Auf Hooge hatte Lina von ihrer Pflegefamilie erzählt. Allgemeine Dinge. Nichts Besonderes. Außer … aber das kann niemand wissen. Darüber hatte sie ganz sicher noch nie mit jemandem gesprochen. Nicht einmal im Schlaf. Hofft sie jedenfalls. Im Schlaf verstummt sie, spätestens wenn wieder das Blut unter der Tür hindurch über die weißen Kacheln fließt.
Ein Fährschiff kommt näher, seine Schiffsschrauben wühlen das Hafenwasser auf. Dann ziehen die an der Bordwand angebrachten Magneten das Schiff an den Pier und halten es fest. Automatisch fährt die Gangway aus und legt sich mit einem Schaben auf den Anleger. Eine Gruppe von Passagieren verlässt das Schiff und eilt die Brücke hinauf.
Hinter Lina hat sich inzwischen eine Menschentraube gebildet, die anfängt zu drängeln, um schnell auf das Schiff zu gelangen. »Immer der Reihe nach«, sagt ein älterer Mann zu Lina, doch sie hat gar keine Chance, sich gegen den Pulk zu stemmen. Sie lässt sich mittreiben und steigt die Treppe hinauf aufs Deck.
Weiter draußen auf der Elbe zieht ein Raddampfer vorbei, dessen Schaufelrad sich malerisch dreht, obwohl das Schiff von einer Schraube angetrieben wird.
Bewegung ist Urlaub. Bewegung schiebt die Gedanken weg.
Lina denkt, dass sie die Karten nutzen muss, die sie in die Hand bekommen hat. Sie kann nicht erwarten, dass Sven ihr weitere Ermittlungsergebnisse frei Haus liefert. Wenn auch nur die geringste Aussicht darauf besteht, irgendwann wieder normal leben zu können, nicht aufzufallen, dann muss sie handeln. Sie ist in einen Mordfall verwickelt. Und diese Verwicklung muss irgendetwas mit ihrer Vergangenheit zu tun haben.
Die Schiffsschrauben wühlen das Wasser auf, und die Fähre löst sich vom Anleger. Ein Rattern geht durch das Schiff, und dann nimmt es Fahrt Richtung Oevelgönne auf.
Eine Frau am Nebentisch fischt ein belegtes Brot aus einer Tupperdose und schiebt es ihrem etwa vierjährigen Sohn in den Mund. Zwei japanische Touristen stehen mit kleinen Ferngläsern an der Reling. Die Fähre gleitet an
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