Seelensturm
reagierte.
»Was ist mit dir los? Warum bist du so still heute? Hast du schlechte Laune?«
»Nein, ich habe keine schlechte Laune. Ich hab nur schlecht geschlafen. Das ist alles«, erklärte ich ihr und hoffte, mein besorgtes Grau, ein Schweif verschwiegenes Weiß und das wenige Rot, würden ihr nicht auffallen. In Wahrheit ließ mich das Gespräch, das ich belauscht hatte, nicht mehr los. Doch ich musste mich zusammenreißen, wenn ich nicht wollte, dass Amy etwas bemerkte. Den ganzen Morgen über strömte diese Mischung aus mir, was meiner Schwester natürlich nicht verborgen blieb.
Sofort versuchte ich, an etwas anderes zu denken, damit meine Aura einen anderen Farbton abgeben würde. Doch es war schwer, sich nicht die tausend Fragen zu stellen, die ständig in meinem Kopf kreisten. Mein Glück war, dass Amy zu sehr mit sich selbst beschäftigt war, um genauer darauf einzugehen.
Wir hatten noch ein paar Minuten, bevor der Unterricht begann. Ich musste unbedingt noch mit Sandy sprechen. Sie stand schon mit ein paar anderen Schülern vor dem Haupteingang in der Sonne.
»Hi, ihr zwei!«, rief sie uns fröhlich entgegen. Amy begrüßte sie mit Küsschen, während ich sauer dreinblickte.
»Hi, Sandy! Kann ich dich kurz sprechen?«, fragte ich und entfernte mich ein paar Schritte von der Gruppe, die mich anstarrte.
»Klar, was ist los? … Ach, wenn du mir wegen der Sache von Samstag eine deiner Standpauken halten willst, dann kannst du dir das sparen. Ich weiß, was du mir sagen willst«, versuchte sie mich zu beschwichtigen.
»Ich will nur, dass du Amy nicht in Schwierigkeiten bringst und so eine Aktion, wie am Samstag, läuft nicht mehr!«
»Jetzt krieg dich wieder ein! Es ist ja schließlich nichts passiert! Außerdem kann Amy ja selbst entscheiden, ob sie mitkommt oder nicht«, gab sie schnippisch zurück.
Sandy nahm mich nicht ernst, so beschloss ich, meinen Tonfall warnender klingen zu lassen. Dazu trat ich noch näher zu ihr hin und sprach absichtlich leiser.
»Amy wird auf keinen Fall mehr mit dir nach Queens gehen. Meine Schwester und ich haben einen Deal, und wenn ich herausfinden sollte, dass sie sich nicht daran hält, weil du sie dazu überredet hast, dann werde ich dafür sorgen, dass du Schwierigkeiten in der Schule und auch mit der Fürsorge bekommst. Hast du mich verstanden? Ich meine das wirklich ernst, Sandy.« Damit ließ ich die perplexe Freundin meiner Schwester einfach stehen und ging ins Schulgebäude. Deutlich spürte ich ihren Blick in meinem Rücken, doch ich sah mich nicht mehr nach ihr um. Ob ich sie damit einschüchtern konnte, wusste ich nicht, doch was ich genau wusste, war, dass ihre Eltern ihr die Freiheiten kürzen würden, wenn die Fürsorge sich bei ihnen melden würde. Erklärungsversuche, warum ihre Tochter mutterseelenallein über Wochen hinweg ohne Aufsicht war, brachten auch reiche Eltern in Bedrängnis.
Sandy war Amys Freundin, nicht meine. Es war mir egal, was sie über mich dachte, solange ich Amy in Sicherheit wusste. Laut Onkel Finley war sie wirklich in Gefahr. Warum und wieso, musste ich erst noch herausfinden.
Den ganzen Vormittag konnte ich mich nicht konzentrieren. Beim Frühstück sah Onkel Finley nicht gut aus. Seine dunklen Schatten unter den Augen zeugten von einer schlaflosen Nacht. Seine Haut wirkte grau und in seinen Augen konnte ich Besorgnis lesen. Doch ich ließ mir nichts anmerken. Ich würde versuchen, herauszubekommen, was hier los war.
In den ersten beiden Stunden hatten wir Geschichte. Wie durch Watte nahm ich Mr. Enis Unterricht wahr. Auf die amerikanische Revolution hatte ich an diesem Morgen überhaupt keine Lust. Doch ich beherrschte mich und tat so, als würde ich interessiert mitschreiben.
Sandy und Amy wurden in dieser Stunde mehrfach ermahnt, ihre Privatgespräche endlich einzustellen. Doch erst, als ich meiner Schwester einen bösen Blick zuwarf, war es still in der Klasse. Als dann auch noch die dritte und vierte Stunde überraschend ausfiel, war ich froh, endlich über das nachdenken zu können, was ich gestern Nacht erfahren hatte.
Es war so schönes Wetter. Die Sonne strahlte bereits den ganzen Morgen am azurblauen Himmel und hatte die Luft angenehm erwärmt. Einige aus meiner Klasse beschlossen, sich auf der Schulwiese in die Sonne zu legen und zu chillen, während Amy mit ein paar Freundinnen zusammenstand und tuschelte. Ich konnte mir schon denken, worüber. Es war uns Schülern strikt verboten, das Schulgelände zu
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