Seelensunde
im Kopf herum. Er hatte sie festgehalten, hatte gekämpft, damit sie den Kopf aus dem reißenden Wasser heben konnte, um wieder zu Atem zu kommen, nachdem sie sich fast schon aufgegeben hatte. Schließlich war sie sich auch sicher, dass er ihr den entscheidenden Stoß versetzt hatte, durch den sie sich aufs Trockene gerettet hatte, bevor die Strömung ihn fortgerissen hatte.
Oder war das doch nur eine Illusion wie so vieles in letzter Zeit?
Gleichviel. Sie stand mal wieder allein da. Wie lange mochte sie geschlafen haben? Sie schaute auf ihre Uhr, aber die ging nicht. Sie holte ihr Handy heraus und war nicht überrascht festzustellen, dass es hier keinen Empfang gab. Letzte Gewissheit, dass sie sich nicht mehr in der Oberwelt befand. Sie wundertesich über gar nichts mehr. Ein wenig kam es ihr vor, als wäre sie wie Alice in ein Kaninchenloch gefallen und im Wunderland gelandet.
Naphré schaute zum sonnenlosen roten Himmel empor. Nichts, woran sie das Vergehen von Minuten, Stunden oder Tagen ablesen könnte. Wenn es hier so etwas überhaupt gab. Einzig das Knurren ihres Magens verriet ihr, dass sie schon eine ganze Weile hier sein musste.
Sie holte den angebrochenen Müsliriegel wieder hervor und aß ihn zusammen mit ein paar Nüssen und Rosinen auf. Mit einem winzigen Schluck Wasser aus der Trinkflasche putzte sie sich darauf die Zähne und fühlte sich danach fast wieder normal. Ihre Kleidung, die sie ausgebreitet hatte, war trocken, nur die Jeans und die Jacke waren noch etwas klamm. Ebenfalls ein Zeichen dafür, dass sie längere Zeit, bestimmt ein paar Stunden, geschlafen haben musste. Sie legte die Sachen zusammen und machte eine Rolle daraus, die sie in den verschließbaren Gefrierbeutel stopfte und im Rucksack verstaute. Eine kurze Bestandsaufnahme ergab, dass sie mit ihren Essensvorräten noch ein paar Tage auskommen konnte. Ein Problem war ihr Vorrat an Trinkwasser, auch wenn sie noch eine zweite Flasche im Rucksack hatte. Sie warf einen skeptischen Blick auf das blutrote Wasser des Flusses. Ob es genießbar war? Ein unbehagliches Gefühl beschlich sie. Da sie es nicht genau orten konnte, verdrängte sie es aus ihren Gedanken und befasste sich stattdessen mit der Frage, ob sie besser an Ort und Stelle bleiben oder auf gut Glück in irgendeine Richtung losgehen sollte.
Bleiben? Das sah so aus, als wartete sie auf etwas: das arme, hilflose Prinzesschen, das ihren Retter herbeisehnte. Das war nicht die Rolle, in der Naphré sich sehen wollte. Da sie keine Ahnung hatte, was mit Alastor geschehen war, erschien es ihr nicht einmal sinnvoll.
„Also, auf geht’s“, sagte sie laut, um auf diese Weise wenigstens eine menschliche Stimme zu hören, und wenn es nur die eigene war. „Wohin soll es gehen?“
Von ihrem Standort gesehen, kam die Strömung des Flusses von rechts. Wenn der Strom sie mitgerissen hatte, war es logisch, dass sie aus dieser Richtung gekommen war. Und da Alastor, soweit sie sich erinnern konnte, weiter abgetrieben worden war, nachdem er sie ans Ufer bugsiert hatte, war ebenfalls folgerichtig, dass er sich irgendwo weiter stromabwärts aufhielt.
„Also links“, murmelte Naphré. Mit ein wenig Glück fand sie ihn. Mit weniger Glück stieß sie stattdessen auf Izanami, was immerhin noch besser war, als in völliger Untätigkeit zu verharren.
Naphré hatte zwar ihr Sportzeug als Ersatzkleidung. Was ihrer Ausrüstung allerdings fehlte, war ein zweites Paar Schuhe. Sie setzte sich auf den Boden und fuhr prüfend mit der Hand in die Stiefel, bevor sie sie anzog. Zu ihrem Erstaunen waren auch sie trocken. Sie runzelte die Stirn. Es gab keine wärmenden Sonnenstrahlen. Wie lange war sie wirklich schon hier? Dem beharrlich nagenden Hungergefühl nach zu urteilen, doch schon länger. Mit Rücksicht auf die schwindenden Ressourcen zerkaute sie noch ein paar Mandeln und trank einen Schluck Wasser dazu. Dann machte sie sich auf den Weg.
Naphré ging und ging.
Es war nicht abzuschätzen, wie weit oder wie lange sie schon gegangen war. Sie lief einfach weiter und weiter, bis die Erschöpfung sie übermannte und sie sich zum Schlafen niederlegen musste. Nach dem Aufwachen aß und trank sie ein wenig und setzte ihren Weg fort. Die Umgebung, das Land, der Fluss blieben immer gleich. Nicht einmal ein Stein markierte den Weg. Wäre der Fluss nicht gewesen, hätte sie gemeint, dass sie die ganze Zeit im Kreis ging und immer und immer wieder zum Ausgangspunkt zurückkehrte.
Dass sie Angst bekam, wollte
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