Seelensunde
Naphré sich nicht eingestehen. Aber etwas lief entschieden verkehrt. Das war nicht zu leugnen. Inzwischen war ihr das Essen ausgegangen, und an Trinkwasser hatte sie nur noch einen kleinen Rest. Fast mehr noch als der Hunger machte ihr der Verlust des Zeitgefühls zu schaffen.Naphré glaubte sich zu erinnern, dass Alastor einmal so etwas erwähnt hatte, als er über die Unterwelt gesprochen hatte. Aber möglicherweise bildete sich das auch nur ein.
Alles gerät einem hier durcheinander.
Naphré blieb stehen, hockte sich hin und überdachte ihre Lage. Was sie bisher unternommen hatte, funktionierte nicht. Sie konnte so nicht weitermachen. Es würde sonst ihren Tod bedeuten. Sie nahm den Rucksack ab, öffnete ihn und sah nach, was sie dabeihatte. Unter anderem fand sie ein Feuerzeug. Aber es gab ringsherum nichts, womit sie hätte Feuer machen können, um zum Beispiel das Wasser aus dem Fluss zu kochen und es trinken zu können. Sie traute diesem Wasser mit seiner giftigen Farbe nicht.
Jedoch war der Zeitpunkt absehbar, an dem sie vor der Wahl stand zu verdursten oder doch von diesem Wasser zu trinken. Unwillkürlich schreckte sie davor zurück. Die Empfindung war so stark, dass sich ihr Magen zusammenzog. Ihr Puls begann zu rasen. Sie durfte dieses Wasser nicht trinken. Auf keinen Fall. Und dann fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Die Speise der Toten. Wenn sie hier in der Unterwelt etwas zu sich nahm, sei es Essen oder Trinken, etwas, das sie nicht aus ihrer Welt mitgebracht hatte, war sie zum Bleiben verdammt. Sie würde die Unterwelt nicht mehr verlassen können. Das war ihr sicherer Tod.
Großartig. Auf der anderen Seite stand die Aussicht zu verdursten. Auch der sichere Tod. Entmutigt legte Naphré sich schlafen.
Als sie aufwachte, war sie so entkräftet, dass sie sich kaum noch rühren konnte. Ihre Vorräte an Essen und Wasser waren endgültig aufgebraucht. Sie wusste noch nicht einmal, wie lange es schon her war, dass sie etwas zu sich genommen hatte. Sie richtete sich halb auf und betrachtete sitzend den Strom. Ob er hier irgendwo war? Alastor?
Die Strömung hatte ihn davongetragen. Daran erinnerte sie sich genau.
Jetzt saß sie hier – am Ende ihrer Kräfte. Sie konnte nicht mehr weiter. Sollte sie wirklich auf diesem unerbittlich harten roten Boden sterben? Sie hatte sich noch nicht einmal von ihm verabschieden können.
Und er nicht von ihr.
Sie hatte seine Stimme noch im Ohr, erinnerte sich, wie er von seiner Familie, der Familie, die er unter den Sterblichen gehabt hatte, erzählt hatte. Von seinen Eltern, seinen Schwestern, den kleinen Nichten, die jetzt alle längst tot waren. Etwas in ihr sagte ihr, dass ihm die Trennung von ihr ohne ein Wort des Abschieds genauso wehtun würde.
Warum hatte sie nie mit ihm geschlafen? Sie könnte sich ohrfeigen, weil sie es nicht getan hatte. Sie würden einander nie wiedersehen und hatten noch nicht einmal eine Erinnerung daran. Sie hätte beharrlicher darauf drängen sollen. Sie hätte es schaffen müssen, diese verdammte Barriere, die er um sich aufgebaut hatte, zu durchbrechen.
„Oh, Alastor Krayl, du und deine beschissene Selbstbeherrschung“, murmelte sie vor sich hin. Es war nicht mehr als ein kaum hörbares Flüstern.
Naphré kniete sich hin, stützte sich auf die Hände und ließ den Kopf hängen. Alles um sie herum drehte sich. Alle „Wenns“ und „Abers“ aus ihren bisherigen Leben drückten sie nieder wie eine unerträgliche Last. Mit Mühe hob sie den Kopf und schaute auf den Fluss.
Ihr Blick fiel auf die Schaumkronen. Dort, wo das schnell dahineilende Wasser die Felsen umspülte. Ihr fiel etwas auf, das sie vorher nicht bemerkt hatte. Sie konnte schwören, dass das dieselben verdammten Felsen waren, die sie zuerst nach ihrer Landung am Ufer gesehen hatte. Dieselbe Form, dieselbe Größe. Und das bedeutete, dass sie, egal wie lange oder wie weit sie vermeintlich gelaufen war, sich keinen Schritt vorwärts bewegt hatte. Die einzige Möglichkeit voranzukommen, schien die zu sein, sich vom Wasser forttragen zu lassen. Vielleicht konnte sie auf diese Weise Alastor finden.
Kuso . Warum war sie nicht darauf gekommen, als sie noch genug bei Kräften gewesen war, um zu schwimmen? Naphré stand auf und merkte, wie unsicher sie auf den Beinen war. Zu ihren Füßen lag der Rucksack. Es war kaum noch etwas darin, das sie gebrauchen konnte. Wenn sie tatsächlich das Wagnis unternahm und sich der Strömung überließ, war das Gepäck nur totes
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