Seelensunde
gekommen bist. Jetzt bist du wieder kühl und kontrolliert.“ In der Tat. Alastor war derjenige, der aufgewühlt und unruhig war, während sie sich so gelassen gab. Das wurmte ihn ein wenig. Er hätte es gern gesehen, wenn ihre Rollen vertauscht gewesen wären.
Sie sah ihn aus ihren dunklen Augen unter den geraden, dichten Wimpern an und fragte ruhig: „Hast du eine Ahnung, was uns bei Izanami erwartet? Ist es da heiß oder kalt? Weißt du, wie das Gelände aussieht?“
Er starrte auf ihre sinnlichen Lippen, dann wandte er sich ab. Er musste davon loskommen, sie fortwährend anzustarren und sich vorzustellen, wie er sie küsste, wie sich ihre Brüste anfühlten, wie sie schmeckte. Doch er war selbst schuld an seinem desolaten Zustand. Warum hatte er es erst so weit kommen lassen? Die Antwort darauf war einfach. Was er sah und wie er sie erlebt hatte, das alles gefiel ihm: ihr Mut, den sie zum Beispiel beim Setnakht-Tempel bewiesen hatte, ihre Intelligenz, ihre Entschlossenheit, ihre Professionalität.
Naphré wartete noch immer auf eine Antwort. Schließlich erklärte Alastor: „Ich bin noch nie dort gewesen. Ich weiß es nicht. Am besten wird sein, man zieht ein paar Schichten übereinander an. Wenn es zu warm wird, kann man die noch immer ausziehen.“ Ausziehen – das Wort allein führte seine Gedanken schon wieder auf Abwege. Er sah sie vor seinem geistigen Auge keuchend unter sich auf dem Bett liegen.
Mit einer unwirschen Bewegung zog Naphré eine leichte Fleecejacke aus dem Schrank und stopfte sie zu den anderen Sachen in den Rucksack. Sie musste seine Gedanken erraten haben. Vielleicht, weil ihre Gedanken eine ähnliche Richtung nahmen? „Du gehst mir auf die Nerven mit deiner versteckten Anmache. Hör auf damit, oder …“
„Hör auf damit“, äffte er sie nach, „oder … was?“
„Das wirst du dann sehen. Und es wird dir nicht gefallen.“
Sie verschloss den Rucksack, schwang ihn über eine Schulter und trat auf ihn zu. Alastor hatte erwartet, dass sie sich anihm vorbei aus der Tür drängen und dabei jede Berührung mit ihm vermeiden würde, aber er täuschte sich. Sie hielt direkt auf ihn zu und blieb unmittelbar vor ihm stehen.
Eine Weile schauten sie einander in die Augen. Dann wurde ihr Blick wieder abgelenkt, und sie starrte die Wand an. Dieses Mal sah Alastor es auch. Statt der Riesenspinne waren es jetzt Hunderte von Tausendfüßlern, die an der Wand hinauf- und herunterkrochen. Alastor fragte sich, ob sie real waren. Er brauchte nur zwei Schritte zur Seite zu tun, um sich zu überzeugen, indem er einen von ihnen platt drückte. Aber im Grunde war das überflüssig. Denn so oder so war es ein Zeichen dafür, dass die Shikome – und Izanami – ungeduldig waren.
Naphré wollte an ihm vorbei, um die letzten Vorbereitungen zu treffen.
„Du kannst es dir immer noch überlegen“, sagte Alastor.
Sie zuckte nur die Schultern. „Du kennst meine Meinung. Außerdem, was sollte das bringen? Wenn ich allein hier bleibe, kommen sie ganz sicher. Da fühle ich mich besser, wenn ich nicht allein bin und jemanden habe, der mir Rückendeckung geben kann.“
„Klingt einleuchtend.“ Wenn Izanami so darauf aus war, sich Naphré zu holen, würde sie auch Mittel und Wege finden, sobald sie hier allein war. Niemand wusste das besser als er, der unzählige Aufträge dieser Art für Sutekh erledigt hatte.
Inzwischen war Naphré wieder in der Küche angekommen, wo sie den Futternapf der Katze auffüllte und ihr frisches Wasser hinstellte. Darauf griff sie zum Telefon. „Hi, hier ist Naphré“, meldete sie sich nach kurzer Zeit. „Könntest du dich ein wenig um Neko kümmern? Ich werde für ein paar Tage weg sein, vielleicht auch für länger.“ Sie wartete die Antwort ab. „Vielen Dank.“ Dann verabschiedete sie sich und legte auf.
„Ein Freund?“, fragte Alastor ein wenig misstrauisch.
„Meine Mutter.“
Alastor war überrascht. Aus irgendeinem Grund hatte er nicht damit gerechnet, dass ihre Mutter noch lebte. Irgendwiehatte er fest angenommen, Naphré Kurata wäre eine Waise und lebte und kämpfte als einsamer Wolf. Möglicherweise hatte ihr Beruf ihn zu der Annahme verleitet. Oder das, was er über Roxys Schicksal wusste.
Naphré sah seinen fragenden Gesichtsausdruck. „Was ist?“, erkundigte sie sich.
„Ich weiß selbst nicht, wie ich darauf komme. Aber ich hatte gedacht, deine Mutter wäre gar nicht mehr am Leben.“
Sie zuckte die Schultern. „So kann man sich
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