Seelensunde
täuschen.“ Mit einer Kopfbewegung wies sie zu dem Familienfoto an der Wand, auf dem alle so glücklich lächelten. „Kurz nachdem diese Aufnahme gemacht worden ist, hat sie uns verlassen. Ich bin danach bei meinem Vater und Großvater aufgewachsen. Später habe ich meine Mutter wiedergefunden. Sie hatte ihren Weg gewählt und ich meinen. Ich habe also kein Recht, sie zu verurteilen.“
„Habt ihr ein gutes Verhältnis zueinander?“
Sie lachte, aber ohne Bitterkeit. Es war ein Klang, bei dem ihm warm ums Herz wurde. „Ich schätze, es ist ungefähr so gut wie deines zu deinem Vater.“ Sie lachte noch einmal, dieses Mal über seine verdutzte Miene. „Muss doch toll sein als Sohn des Herrschers über das Chaos.“
„Ganz toll.“ Er fiel in ihr Lachen ein. „Aber wie kommst du darauf? Siehst du deine Mutter als Herrscherin über das Chaos?“
„Nein, ich sehe sie als eine Frau, die im Glauben, das Richtige zu tun, einen schrecklichen Fehler gemacht hat, den sie teuer hat bezahlen müssen.“ Ein Schatten huschte über Naphrés Gesicht. „Aber ich kann mir gut vorstellen, wie es dazu gekommen ist. Ich kenne diese ganze Arie von Pflichtbewusstsein und Pflichterfüllung selbst zur Genüge. Sie fühlte sich verpflichtet …“ Naphré verstummte.
Offenbar befürchtete sie, schon zu viel gesagt zu haben. Aber Alastor konnte sich den Rest auch so denken. Naphré war ein Otherkin, eine Isistochter wie ihre Mutter. Alastor vermutete, dass die Bemerkung über das Pflichtbewusstsein sich auf dieIsisgarde bezog. Ihre Mutter hatte sich verpflichtet gefühlt, das Erbe auf sich zu nehmen, während Naphré sich geweigert und der Garde den Rücken gekehrt hatte.
Wie war sie zu dieser Entscheidung gekommen? Aber warum beschäftigte ihn diese Frage überhaupt? Er wollte das alles nicht – Gefühle, Sorge um jemanden, Anteilnahme. Je weniger er davon zuließ, desto weniger verletzbar war er. Trotzdem fragte er nach. „Wozu fühlte sie sich verpflichtet?“
Naphré warf ihm einen vorsichtigen Blick zu. „Ich verrate dir meine Geheimnisse und du mir deine. Wärst du dazu wirklich bereit?“
Nein, keinesfalls, schoss es Alastor sofort durch den Kopf. Er brauchte es nicht auszusprechen. Naphré verstand seine Antwort auch so und hatte offenbar auch keine andere erwartet. Als sie sich von ihm abwandte, glaubte Alastor einen Anflug von Enttäuschung in ihren Zügen zu erkennen. Das war’s also schon mit ihrem harmonischen Einvernehmen. Eine kurze Episode.
Naphré trat vor eine der gerahmten Fotografien. Sie fuhr mit den Fingerspitzen den Bilderrahmen entlang und betätigte einen versteckten Hebel. Darauf schwang das Bild zurück wie der Flügel eines Fensters und gab eine Nische in der Wand frei. Alastor entdeckte in diesem Versteck eine Reihe von Waffen. Pistolen, Messer, Wurfsterne, ein Paar Schlagstöcke mit Quergriffen und ein Würgeholz, auch Nunchaku genannt.
„Was ist das?“, fragte Alastor und zeigte auf einen sehr kurzen Schlagstock.
„Ein Keibo, ein Teleskop-Totschläger. Sehr handlich.“
Das und die Schlagstöcke nahm sie heraus, dazu zwei Messer, davon eines mit einem dicken Griff und einer kurzen, gebogenen Klinge.
„Keine Feuerwaffen?“, fragte Alastor interessiert. Keine von Naphrés Waffen war zu gebrauchen, wenn es dort, wohin sie aufbrachen, zum Kampf kommen sollte. Sie hatte es mit Unterweltlern zu tun, die sich davon nicht aufhalten ließen. Anders als sie waren sie verletzlich, aber nicht sterblich.
„Ich weiß, dass das im Grunde nutzlos ist“, nahm sie zu seiner Überraschung seinen Einwand vorweg.
„Und warum schleppst du das dann doch mit?“
„Reine Gewohnheit.“
Aus einem Wandschrank neben der Haustür nahm sie ein Paar Stiefel, zog sie an und ließ das längere Messer im Schaft des linken Stiefels verschwinden. Das andere Messer brachte sie in der Scheide eines Gürtels unter, der wie ein Werkzeuggürtel mehrere Taschen und Halterungen hatte.
Alastor, der ihr folgte, erspähte auf einem Regal eine Kristallschale mit Bonbons. Er leerte ihren Inhalt in eine seiner Jackentaschen als Reserve. Er hatte es schon ein- oder zweimal erlebt, dass ihm der Zucker ausgegangen war. Es war entsetzlich gewesen. Ein Hunger, der einen von innen her auffraß, noch schlimmer als Hunger, denn er nagte nicht nur in der Magengegend, sondern befiel jede einzelne Zelle seines Körpers.
Als er die Schale zurückstellte, bemerkte er, dass Naphré ihn beobachtet hatte. „Fertig zum Aufbruch ins
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