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Seelentod

Seelentod

Titel: Seelentod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ann Cleeves
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es gar nicht richtig hell, und an den Fenstern rann der Regen hinab. Vera konzentrierte sich auf ihre Besprechung. Sie hatte nicht viel geschlafen und fühlte sich doch voller Energie, sie konnte förmlich spüren, wie sie ihr durch die großen, tapsigen Füße strömte und in den Fingern kribbelte.
    «Die Hinweise von der besorgten Lehrerin waren ein bisschen schwammig. Elias kam müde und hungrig zur Schule. Er bekam Wutanfälle, was gar nicht typisch für ihn war. Ein paar Mal hat er sich in die Hose gemacht. Sie wusste, dass die Fürsorge mit dem Fall befasst war, deshalb nahm sie Kontakt zu Connie Masters auf. In jedem anderen Fall hätte sie wahrscheinlich einfach mit den Eltern gesprochen.»
    «Keine Anzeichen für Misshandlungen?» Holly trug schicke Jeans und einen enggeschnittenen, schwarzen Pullover. Vera nahm immer genau zur Kenntnis, was die junge Frau anhatte; sie nährte ihren Neid genauso, als würde sie an einer schorfigen Wunde herumkratzen.
    «Nichts Körperliches, nein», sagte Vera. «Keine Blutergüsse oder Verbrennungen. Wäre er jünger gewesen, hätten sie es wohl als ‹Entwicklungsstörung› abgetan. Er war halt ein bisschen teilnahmslos, anders als früher.» Sie dachte, dass Misshandlung viele Formen annehmen könne.
    «Was hat die Fallbesprechung ergeben?» Joe Ashworth war gut darin, ihr die Bälle zuzuspielen; er wollte, dass es weiterging. Er sah müde aus. Aber er war ja auch fast die ganze Nacht auf gewesen und hatte im Fall Elias Jones herumgewühlt.
    «Sie waren sich einig, dass es keinen Grund gibt, drastische Maßnahmen zu ergreifen. Connie Masters sollte ein bisschen regelmäßiger bei den Jones vorbeischauen – sie kam nur etwa drei- oder viermal im Jahr. Sie sollte allein mit dem Jungen sprechen, und mit seiner Mutter. Die Lehrerin sollte herausbekommen, was in der Schule so vor sich ging. War ja möglich, dass das veränderte Verhalten des Jungen gar nichts mit seiner häuslichen Situation zu tun hatte. Vielleicht ist er auf dem Spielplatz gehänselt worden oder hat sich mit einem Freund gestritten.»
    Charlie hustete und spuckte in ein graues Taschentuch, das einmal weiß gewesen sein mochte. Vera schaute in
ihr
Klassenzimmer. «Bis dahin ist also alles nach Vorschrift gelaufen. Alle Entscheidungen und Maßnahmen sind schriftlich festgehalten worden. Vorbildlich durchgeführte Sozialarbeit.» Sie malte mit dem Finger ein Anführungszeichen in die Luft. Den letzten Satz hatte sie aus dem Bericht des Untersuchungsausschusses.
    «Und wo kommt unser Opfer ins Spiel?», fragte Charlie.
    «Jenny Lister.» Vera legte Nachdruck auf die beiden Worte und funkelte ihn an, um sicherzugehen, dass er verstanden hatte: Die Frau verdiente es, mit Namen genannt zu werden. «Sie war die Chefin von Connie Masters. Hat die Fallbesprechung geleitet. Und sie hat Elias’ Mum gekannt, seit diese ein kleines Mädchen war. Auch Mattie Jones ist ihr ganzes Leben lang immer wieder von den Sozialbehörden betreut worden.» Sie blickte zu Ashworth hinüber, forderte ihn auf, die Geschichte weiterzuerzählen. Er kam nach vorn. Und, Bürschchen, ist es das, was du willst? Die Verantwortung übernehmen und mich rausdrängen, wie ein Kuckuck, der seine übergewichtige Pflegemutter aus dem Nest schubst? Sie wusste nicht recht, ob sie stolz auf ihn sein oder sich ärgern sollte, dass er sich so aufplusterte.
    «Also ist es an Connie Masters hängengeblieben, die Familie weiter zu betreuen. Allerdings ist ihr Leben zu der Zeit auch gerade in Stücke gegangen. Ihr Mann hatte sie verlassen, und sie musste ganz allein ihre kleine Tochter großziehen. Das haben sie in der Untersuchung stark hervorgehoben. Sie hatten nicht den Eindruck, dass sie bei ihrer Arbeit mit Elias’ Familie wirklich objektiv war.» Jetzt klang er beinahe selbstgerecht. Das passierte ihm manchmal, und dann hätte Vera ihm immer am liebsten eine runtergehauen. Bloß weil er die perfekte Frau und perfekte Kinder hatte, glaubte er, dass das alle schaffen müssten. Aber sie ließ ihn weiterreden.
    «Connie Masters nahm Elias auf einen Ausflug mit. Hat es ihm als einen Riesenspaß verkauft. Sie wollten an der Küste picknicken und auf dem Heimweg irgendwo
Fish and Chips
essen. Sie hat gedacht, wenn er einen ganzen Nachmittag mit ihr zusammen wäre, würde er sich ihr eher anvertrauen.»
    «Ist so was üblich?», unterbrach Holly ihn und drehte sich auf ihrem Stuhl um, um sicherzustellen, dass alle auf sie schauten. «Ich meine, dass eine

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