Seelentod
dachte sie: Vor vierundzwanzig Stunden stand ich auch hier und hatte keine Ahnung, dass Jenny Lister tot ist.
Sie ging ihr Gespräch mit dem jungen Polizisten noch einmal durch. Hatte sie den richtigen Ton getroffen? Es war wichtig, dass er ihr glaubte. Den Gedanken an noch mehr Medienrummel, daran, sich noch einmal den bohrenden Fragen aufdringlicher Beamter stellen zu müssen, konnte sie nicht ertragen. Natürlich hatte sie ihm nicht alles erzählt, das wäre ja gar nicht möglich gewesen. Doch selbst jetzt fand sie die Vorstellung schrecklich, sie könnte wie eine Idiotin dastehen.
Veronica Eliot kam die Straße entlang, ganz Landlady in ihrer schicken braunen Hose und dem Tweedblazer. Sie hatte ihr Auto vor der alten Schule geparkt. Schon aus der Entfernung konnte Connie ihr Markenzeichen erkennen, ein auffallend schrilles Rot auf Lippen und Fingernägeln. Ein Vampir in Kaschmir und grünen Jagdstiefeln. Warum ist sie mir bloß so zuwider?
Connie wappnete sich bereits gegen Veronicas eisigen Blick und die spitzen Kommentare, das im Vorüberstolzieren emporgereckte Kinn, doch auf einmal blieb die ältere Frau stehen. Sie zögerte, ließ das erste Mal, seit Connie sie kannte, eine Unsicherheit erkennen. Es war noch früh, und die anderen Mütter waren noch nicht da, niemand konnte das Zusammentreffen also beobachten.
Einen Moment lang kostete Connie das Unbehagen der Frau aus und sagte nichts.
«Sie haben doch bestimmt schon das mit Mrs Lister gehört.» Für Veronica war das ein zaghafter Einstieg. Es klang gar nicht herausfordernd und auch nicht, als würde sie etwas in Erfahrung bringen wollen, wie Connie eigentlich erwartet hatte. Sie war sich sicher, dass Veronica den fremden Wagen vor dem Cottage bemerkt hatte, und Ashworth sah man den Polizisten schon von weitem an, also dachte sich Veronica wohl, dass Connie Besuch von der Polizei gehabt hatte. Sie würde alles darüber wissen wollen.
«Natürlich», sagte Connie. «Das kam gestern Abend in den Lokalnachrichten.»
«Sie haben sie doch bestimmt gekannt. Waren Sie nicht Kolleginnen?»
«Ja.»
«Was für ein furchtbarer Schock», sagte Veronica, die nun allmählich ihre übliche Haltung zurückgewann. «Ich habe sie zwar nicht gut gekannt, aber unsere Kinder sind miteinander befreundet. Wissen Sie, ob die Polizei bei ihren Ermittlungen schon Fortschritte gemacht hat?»
Also wollte sie doch etwas in Erfahrung bringen. Oder war ihr Bedürfnis nach Klatsch und Tratsch einfach nur stärker als ihre Abneigung gegen Connie?
«Mir würden sie da ja wohl kaum was anvertrauen, oder?» Connie spürte einen Teil ihrer alten Stärke zurückkehren und lachte kurz auf, um das auch zu zeigen.
«Wahrscheinlich nicht, aber ich dachte, Sie hätten vielleicht noch ein paar Freunde bei den Sozialbehörden. Wäre ja möglich, dass die eine Ahnung haben, wie die Ermittlungen so laufen …» Veronica brach ab, als ihnen ein paar Mütter entgegenkamen, und sagte nur noch hastig: «Kommen Sie doch gleich zum Mittagessen bei mir vorbei. Nichts Aufwendiges. Bringen Sie Ihre Kleine mit.» Und ohne auf Antwort zu warten, eilte sie hinüber, um die anderen Frauen zu begrüßen.
Connie schaute ihr nach und dachte, dass sie wie einer dieser Watvögel war, die man am Strand beobachten konnte; unaufhörlich stieß sie mit dem Kopf nach vorn, um im Schlamm zu stochern, nicht nach Würmern, sondern nach Informationen. Während alle wie gewohnt ihre Kinder einsammelten, nahm sie keine Notiz mehr von Connie. Und trotzdem, dachte Connie, war Veronica vielleicht bloß hergekommen, um sie einzuladen.
Sie war fest entschlossen, nicht hinzugehen. Was fiel dieser Frau eigentlich ein, eine Einladung auszusprechen, die eher einem Befehl gleichkam, und zu erwarten, dass Connie dem Wunsch einfach entsprach? Aber als sie mit Alice an der Hand zurück durch das Dorf ging, merkte sie, wie die Neugierde sie überwältigte. Nicht nur darauf, was Veronica wohl von ihr wollte, sondern auf das Leben und die Familie dieser Frau. Das kannten wohl alle Sozialarbeiter: das Verlangen, im Leben anderer Menschen zu kramen. Und immerhin hatte sie sie zum Mittagessen eingeladen. Connie war schon seit Tagen nicht mehr einkaufen gewesen, und es gab kaum noch Vorräte im Cottage. Sie sah Veronica in ihrem Range Rover an sich vorbeifahren und fragte sich, wie es wohl war, zu ihresgleichen zu gehören, mit einem reichen Mann, der für einen sorgte, einem großen Haus und einem großen Auto. Einen Augenblick lang
Weitere Kostenlose Bücher