Seelentod
schärfen meinen Blick.» Sie hielt inne. «Und dann und wann haben Sie sogar einen guten Einfall.»
Also saß er da und hörte zu, während draußen der Mond aufging und der Wind sich legte. Sie unterbrach sich kurz, um ein Streichholz in den Kamin zu werfen und die Stehlampe mit dem abgewetzten Pergamentschirm einzuschalten, fuhr dann aber gleich wieder fort, ordnete ihre Gedanken, zog Schlussfolgerungen, plante, was sie als Nächstes tun sollten. Bei den Teambesprechungen benutzte sie die weiße Kunststofftafel, um zu verdeutlichen, was sie sagte, aber Joe wusste genau, dass sie keine schriftlichen Notizen oder Schaubilder brauchte. Sie hatte es alles im Kopf; sämtliche Verbindungen und sämtliche vermeintlichen Zufälle schienen in ihrem Gedächtnis verankert zu sein.
Über die Tote sprach sie, als hätte sie sie gekannt. «Jenny Lister. So wie ich das sehe, war sie eine stolze Frau. Das hat sie angetrieben. In allem war sie gut: eine gute Mutter, eine gute Sozialarbeiterin, eine gute Chefin. Und für ihr Alter hat sie auch noch gut ausgesehen. Das haben alle gesagt, die sie kannten. Aber sie hat sich selbst für noch ein bisschen besser gehalten. Sie war klug genug, das nicht zu zeigen, aber in ihrem Innersten hat sie das doch geglaubt. Und darum hat sich auch der ganze Plan mit dem Buch gedreht. Sie hat gemeint, sie muss der Welt beibringen, was Mitgefühl ist.» Vera blickte von ihrem Bier auf. «Sie wäre mir bestimmt ganz schön auf den Wecker gegangen, wenn ich sie gekannt hätte. Ich kann perfekte Menschen nicht ausstehen. Und viele Freunde hat sie ja auch nicht gehabt, nicht wahr? Echte Freunde. Auch diese Lehrerin ist doch eher eine Bewunderin gewesen als eine Freundin, und Jenny hat ihr nicht gerade vertraut. Sie hat nur ein paar Andeutungen fallenlassen, um sich interessant zu machen.»
Joe schwieg. Wenn Vera in Fahrt war, ließ man sie am besten einfach weiterreden. Die Kommissarin fuhr fort. «Warum ist sie also umgebracht worden? Und wieso auf eine so aufwendige Art und Weise? Man erdrosselt doch niemanden, bloß weil er einem auf die Nerven fällt. Und wenn man einen Mord begehen will, sucht man sich einen ruhigen Ort dafür aus. Nicht das Dampfbad eines protzigen Hotels, wo jede Minute einer reinplatzen kann. Das kommt mir wie ein Spiel vor, wie eine Show. Und wer von unseren Verdächtigen gibt den besten Showmaster ab?»
Die meisten von Veras Fragen waren rhetorisch, aber diesmal erwartete sie offenbar eine Antwort.
«He! Sind Sie schon am Einschlafen? Führe ich hier Selbstgespräche?»
«Danny Shaw?» Die Antwort kam zaghaft heraus, und dafür schämte er sich. Er fühlte sich ihr gegenüber immer wie ein Achtjähriger, der mit aller Macht versucht, sich vor der Lehrerin nicht zum Narren zu machen.
«Unser zweites Opfer? Dann wären wir also wieder bei Charlies These, dass der Mord an Danny ein Racheakt war. Nein, das glaube ich einfach nicht. Oh, ich bin mir sicher, dass Danny ein ganz schöner Angeber war, aufgeblasen ohne Ende. Aber das sind vermutlich viele Jungs in dem Alter. Nein, ich denke da an Michael Morgan. Es kommt mir so vor, als hätte sein ganzer Akupunkturzirkus mehr mit Schauspielerei zu tun als mit Medizin. Er schafft sich gern eine Bühne, lenkt die Leute ab. Die glauben an den Zaubertrick und fühlen sich dann gleich besser.»
«Aber warum sollte er Danny umbringen?» Joe war wieder zum Stichwortgeber geworden.
«Wir wissen, dass sie sich gekannt haben. Vielleicht ist Morgan ja rausgerutscht, was er vorhatte. Danny hat dringend Geld gebraucht. Ich hätte es ihm durchaus zugetraut, dass er es mit Erpressung versucht.»
«Warum hätte Morgan sich das Willows als Bühne für den ersten Mord aussuchen sollen? Ihm muss doch klar gewesen sein, dass wir rauskriegen, dass er da arbeitet. Und ganz sicher wäre er der Allerletzte, der Jennys Tasche in Connies Garten geworfen hätte. Er würde bestimmt nicht wollen, dass wir den Elias-Jones-Fall wieder ausgraben.»
Einen Augenblick lang saß Vera schweigend da. «Verdammt», sagte sie dann fröhlich. «Sie haben natürlich recht. Ich kann den Hundesohn nur nicht ausstehen und würde ihn zu gern für irgendwas vor Gericht stellen. Ihm die Arroganz aus dem Gesicht vertreiben. Aber so darf man keine Ermittlungen führen. Man sollte es nie persönlich werden lassen.» Sie grinste ihn an, schließlich war klar, dass sie es immer persönlich werden ließ. Das Feuer erhellte die eine Hälfte ihres Gesichts; der Rest lag im
Weitere Kostenlose Bücher