Seelentraeume
ihm gähnte Finsternis. Sie griff nach ihm, ihre langen Tentakel wanden sich, bereit, ihn zu packen und abwärts zu ziehen. Die Finsternis war nicht der Tod, so viel wusste er, sie war etwas anderes. Schwimmend spürte er ihre Kälte, die sich im Wasser unter ihm ausbreitete. Sie roch nach Blut, erkannte er.
Er hatte keine Angst davor. Weit gefehlt, sie fühlte sich sogar vertraut an, als sei sie ein Teil von ihm.
»
Richard?
«
Charlotte … Er drehte sich im Wasser und sah sich nach ihr um.
Wo bist du, Liebste
? Auf allen Seiten Wasser. Eine durchsichtige Ewigkeit.
»
Komm zu mir zurück, Richard
.«
Ich versuch’s. Ich versuch’s ja, mein Schatz. Ich suche dich
.
»
Komm zurück zu mir
.«
Er spürte etwas Warmes auf der Haut und wandte sich danach um. Ein durchscheinendes goldenes Leuchten verdrängte die kristallinen Tiefen. Er schwamm darauf zu.
Die Finsternis folgte ihm. Die eiskalten Fesseln ihrer Tentakel wickelten sich um seine Beine. Sie zogen an ihm, doch das Licht hielt ihn fest, weigerte sich, ihn loszulassen.
»
Komm zurück zu mir, Richard
.«
Er wollte ihr sagen, dass er sie liebte. Lass mich nicht los.
»
Komm zurück
.«
Er stieß sich ab. Die Finsternis zerbrach, die abgerissenen Fetzen ihrer Tentakel brannten sich in seine Haut, hinterließen lange, schwarze Male, die er, wie er wusste, für immer behalten würde. Er trat Wasser und schwamm ins Licht.
Als er die Augen aufschlug, sah er Charlotte über sich. Ihre Augen leuchteten durchscheinend. Sie hatte ihn gerettet. Er wollte es ihr sagen, doch der Schmerz verschloss ihm den Mund, sammelte sich im Kiefer.
Sie griff nach seiner Hand und küsste seine Finger. Dann fiel ihm auf, dass die Haltegurte verschwunden waren.
Dekart lehnte an dem Rollwagen mit den Instrumenten. Er sah krank aus.
Richard kämpfte gegen die Schmerzen an. »Wie ist es gelaufen?«
»Meine beste Arbeit«, antwortete der Chirurg. Dann stieß er sich von dem Rollwagen ab und verneigte sich vor Charlotte. »Es war mir eine Ehre.«
»Ganz meinerseits«, erklärte sie.
Damit drehte sich Dekart auf dem Absatz um und marschierte hinaus.
Charlotte beugte sich über ihn. Als er Tränen in ihren Augen sah, wollte er den Mund öffnen. Doch sie legte ihm die Fingerspitzen auf die Lippen.
»Still«, hauchte sie und küsste ihn. Er schmeckte Tränen und Verzweiflung auf ihren Lippen. Sie hielt ihn lange, dann ließ sie ihn los und kehrte zu ihrer Selbstbeherrschung zurück wie zu einer Maske. Fast wünschte er sich, er hätte es nicht getan.
»Möchtest du einen Spiegel?«, fragte Charlotte.
»Ja.«
Sie wies nickend auf ihre Hand, die er immer noch festhielt. »Du musst mich schon loslassen.«
»Nein.«
Sie erwiderte sein Lächeln und setzte sich auf einen Stuhl. Zehn Minuten später war er endlich überzeugt, dass sie sich nicht wieder in nichts auflösen würde, und gab ihre Hand frei. Sie brachte ihm einen Spiegel. Ein Fremder blickte ihn an. Er konnte noch Schatten seiner selbst erkennen. Die Augen waren dieselben. Die Augenbrauen vielleicht, sogar die Stirn. Alles Übrige gehörte Casside.
»Das bin ich nicht«, sagte er.
»Du hast es so gewollt«, erinnerte Charlotte ihn.
»Macht es dir was aus?«
»Dein neues Gesicht?«
Er nickte.
Sie seufzte. »Es macht mir was aus, dass du dein Leben dafür riskiert hast. Wessen Gesicht du hast, ist mir gleich, Richard.«
Da erkannte er, dass er sie liebte, schmerzlich, allumfassend, mit der verzweifelten Intensität eines Sterbenden, der sich an die wenigen guten Momente des Lebens klammerte.
12
Warme Lippen berührten ihren Mund.
Charlotte öffnete die Augen. Sie war auf dem Sofa neben der Feuerstelle eingeschlafen. Die ausgedehnte Heilung hatte ihren Tribut verlangt. Erschöpfung hüllte ihren Körper ein. Ihr kam der absurde Gedanke, dass sie auf ihr lastete wie eine schwere Wolldecke und ihr mit jedem Atemzug Lebenskraft entzog.
Richard sah sie an. Sie streckte die Hand aus, berührte sein neues Gesicht und suchte nach Anzeichen für eine Infektion. Sauber.
»Hast du Schmerzen?«
»Nein.«
Dekart war wirklich ein Künstler mit dem Messer. Was sie gemeinsam geschafft hatten, grenzte an ein Wunder. Richards Gesicht ähnelte dem Cassides fast aufs Haar, doch während die Augen des anderen Adligen verhalten blickten, schimmerte hier Richards Intelligenz durch und verlieh dem Blaublütigen etwas Gefährliches. Casside sah verdrießlich und schwermütig aus, seine Miene verriet Pessimismus. Jedoch von
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